Das UNO-Entwicklungsprogramm (UNDP) forderte unlängst eine Art Marshall-Plan. Der Leiter des Programms für Landminenräumung, Paul Heslop, verglich die Situation mit der Lage in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg: Er verwies darauf, dass Europa 15 Jahre gebraucht habe, um das Problem in den Griff zu bekommen. Heslop veranschlagte für die kommenden fünf Jahre bis zu 300 Millionen Dollar (275 Mio. Euro) pro Jahr an Kosten. Die UNO will Kiew bei der Bewältigung dieser Aufgabe helfen.
„Minenfelder sind ein Element der russischen Verteidigung“, hieß es in einem Bericht des britischen Forschungszentrums Royal United Services Institute (RUSI) vom Mai. Moskau setze sie „extensiv ein, indem es Panzerabwehrminen und Anti-Personen-Minen mit mehreren Auslösemechanismen kombiniert“. Die russischen Minenfelder könnten auch dafür verantwortlich sein, dass die lange erwartete ukrainische Gegenoffensive noch nicht die Dynamik erreicht habe, die sich einige erhofft hatten – darunter auch Präsident Wolodymyr Selenskyj, der zugab, dass sie „langsamer als gewünscht“ verlief.
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Anti-Personen-Minen sind nach internationalem Recht verboten und durch das Ottawa-Übereinkommen von 1997 geächtet. Moskau ist dem Vertrag allerdings nicht beigetreten, ebenso wenig wie die USA. Die Ukraine hat den Vertrag, der die Länder auch verpflichtet, ihre Minenbestände zu vernichten, verminte Gebiete zu räumen und Hilfe für Minenopfer zu leisten, 2005 ratifiziert. Kiew begann zwar auch mit der Zerstörung seiner Bestände, stoppte diese aber mit Beginn des Krieges in der Ostukraine 2014.
Nach Angaben der Menschenrechtsgruppe Human Rights Watch (HRW) setzt nicht nur Russland die verbotenen Minen ein, sondern auch Kiew. So habe HRW elf zivile Opfer, darunter ein Todesopfer und mehrere Beinamputationen, durch „Blütenblatt“- bzw. „Schmetterlingsminen“ dokumentiert. Diese soll die Ukraine im vergangenen Jahr in der Nähe der östlich gelegenen Stadt Isjum mit Raketen auf russisch besetztes Gebiet abgefeuert haben.
Dutzende verschiedene Arten
HRW forderte die ukrainische Regierung Ende vergangener Woche auf, von dieser Praxis wie zuvor versichert abzusehen, Einsätze der Minen zu untersuchen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Damit müsse die Regierung deutlich machen, dass sie dem Schutz von Zivilisten verpflichtet sei, sagte Steve Goose von Human Rights Watch. Die Organisation übermittelte nach eigenen Angaben ihre Erkenntnisse bereits im Mai an die ukrainische Regierung. Bisher habe sie aber keine Antwort darauf bekommen.
Die russischen Streitkräfte wiederum hätten seit Beginn den Einmarschs in der gesamten Ukraine mindestens 13 Arten von Anti-Personen-Minen eingesetzt, durch die Zivilisten getötet oder verstümmelt worden seien. In HRW-Berichten wird die Verwendung der Minen als „Verstoß gegen internationales Menschenrecht“ verurteilt.
Gefahr über Jahrzehnte
Landminen sind über Jahrzehnte eine tödliche Gefahr für die Zivilbevölkerung und gefährden die Wiederaufnahme des wirtschaftlichen und sozialen Lebens. Weltweit werden Schätzungen zufolge monatlich etwa 2.000 Menschen durch Minen verletzt oder getötet, auf der Welt sollen Dutzende Millionen nicht geräumte Landminen liegen. Neben Anti-Personen- und Panzerabwehrminen setzen die Kriegsparteien auch Streumunition ein, die ebenfalls eine langfristige Bedrohung darstellt. Streumunition ist durch das Osloer Übereinkommen von 2008 verboten, weder Moskau noch Kiew haben die Vereinbarung ratifiziert.
Mit der Zerstörung des Kachowka- Staudamms im Süden der Ukraine im Juni ist die Minengefahr weiter gestiegen. Die Flut, die auf die Sprengung folgt, hat viele Landminen – etwa an den Ufern des Dnipro – weggespült. Wo die gefährlichen Sprengkörper nun liegen, weiß niemand genau. Auch zuvor entminte Gebiete könnten jetzt wieder betroffen sein.
Entwarnung aus Saporischschja
Zumindest aus dem von Russland besetzten ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja gab es am Wochenende Entwarnung: Bisher wurden keine Anzeichen für Verminung gesichtet. Das Team der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), das dauerhaft in dem AKW stationiert ist, habe jedoch zu einigen Bereichen der Anlage noch keinen Zugang erhalten, teilte IAEA-Chef Rafael Grossi mit. Zuvor hatte der ukrainische Militärgeheimdienst SBU erklärt, Russland habe das AKW vermint und plane einen Terroranschlag dort.
30 Prozent der Landesfläche vermint
Seit Beginn der Gegenoffensive gegen die russischen Invasionstruppen vor einem Monat hat die Ukraine nur mäßige Fortschritte vermeldet. Grund hierfür könnten auch die zahlreichen Minenfelder sein, die nach dem russischen Truppenabzug entlang der Front hinterlassen wurden. Etwa 30 Prozent der Landesfläche gelten inzwischen als vermint.
Debatte in Österreich
In Österreich hatte sich im Frühjahr eine politische Debatte entsponnen, wie man der Ukraine bei den Räumungsarbeiten helfen könne. Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP) sagte, sie könne sich eine Unterstützung durch das Bundesheer vorstellen – allerdings erst nach Ende des Krieges. Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) stimmte zu: „Kein österreichischer Soldat wird für die Minenräumung ukrainischen Boden betreten, solange das ein Kriegsgebiet ist.“
Man werde jedoch den International Trust Fund (ITF), eine auf Entminung spezialisierte Hilfsorganisation, mit zwei Millionen Euro unterstützen. Bundespräsident Alexander Van der Bellen hatte sich dagegen für eine aktive österreichische Unterstützung starkgemacht: „Unterstützung bei der Entminung ziviler Bereiche wie Wohnhäuser, Schulen, Kindergärten oder landwirtschaftlicher Gebiete widerspricht sicher nicht der österreichischen Neutralität, sondern ist eine humanitäre Angelegenheit.“