Frau mit Kindern auf der Flucht
AP/Majdi Mohammed
Israels Offensive in Dschenin

Tausende verlassen Flüchtlingslager

Israels Armee hat ihre Militäroffensive im besetzten Westjordanland in der Nacht auf Dienstag fortgesetzt. Tausende Palästinenserinnen und Palästinenser mussten deshalb aus dem Flüchtlingslager in Dschenin fliehen, wie ein hoher palästinensischer Beamter mitteilte. Bei Luftangriffen und Gefechten auf dem Boden seien mindestens zehn Menschen getötet worden, so das palästinensische Gesundheitsministerium.

Laut UNO sollen mindestens drei Kinder unter den Toten sein. Rund 100 weitere Palästinenser seien verletzt worden, 20 von ihnen lebensgefährlich. Bei mindestens einem Toten soll es sich Berichten zufolge um einen militanten Palästinenser handeln.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) kritisierte am Dienstag, dass Ersthelfer am Eintritt in das Flüchtlingslager gehindert worden seien, um Verletzte zu behandeln. Auch der Palästinensische Rote Halbmond und Ärzte ohne Grenzen meldeten aufgrund von israelischen Straßensperren und zerstörter Infrastruktur große Schwierigkeiten, in das Lager zu gelangen.

Erste Großoffensive seit rund 20 Jahren

Die israelische Armee war bereits in der Nacht auf Montag in die palästinensische Stadt Dschenin eingerückt und hatte damit ihre erste Großoffensive mit Drohnen, gepanzerten Fahrzeugen und Bulldozern seit rund 20 Jahren begonnen. Nach eigenen Angaben beschlagnahmte sie Waffen und Sprengstoff und nahm mehrere Verdächtige fest. Zudem sei ein unterirdischer Schacht zur Lagerung von Sprengkörpern zerstört worden.

Palästinensische Medien meldeten am Montagabend, die israelische Armee habe angeordnet, dass Palästinenser das Flüchtlingslager in Dschenin verlassen sollten. Aufnahmen im Netz zeigten, dass viele Menschen aus ihren Häusern strömten. Israelischen Medienberichten zufolge bestritten israelische Sicherheitsbeamte hingegen, dass es einen solchen Befehl zur Evakuierung gegeben habe. Laut Armee flüchteten die Menschen zu Tausenden vor den Kämpfen.

„3.000 Menschen haben Lager verlassen“

„Bisher haben etwa 3.000 Menschen das Lager verlassen“, sagte der stellvertretende Gouverneur von Dschenin, Kamal Abu al-Rub, der Nachrichtenagentur AFP und fügte hinzu, dass Vorkehrungen getroffen wurden, um die Fliehenden in Schulen und anderen Unterkünften in Dschenin unterzubringen. Er sagte, normalerweise würden sich etwa 18.000 Palästinenserinnen und Palästinenser in dem Lager aufhalten.

Einwohner auf der Flucht
AP/Majdi Mohammed
Aus Angst vor weiteren Angriffen müssen viele Familien fliehen

Der Rettungsdienst des Palästinensischen Roten Halbmonds nannte dieselbe Zahl und erklärte, er rechne mit noch mehr Flüchtlingen, da Israel angedeutet habe, die Operation könne noch Tage dauern. Der israelische Armeesprecher Richard Hecht sagte, die Operation werde „so lange wie nötig“ dauern. Am Dienstag teilte der Nationale Sicherheitsberater Zachi Hanebi mit, dass Israel kurz davor sei, die gesetzten Ziele zu erreichen, und stellte ein baldiges Ende des Großeinsatzes in Aussicht. Es sollen aber Soldaten im Camp für weitere Durchsuchungen postiert werden.

Juliette Touma, Sprecherin des UNO-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR), bestätigte gegenüber der AFP ebenfalls, dass die Bewohnerinnen und Bewohner das Lager verlassen. Das UNRWA, das UNO-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge, meldete, viele der Menschen würden Lebensmittel, Trinkwasser und Milchpulver benötigten.

Hochburg militanter Palästinenser

Palästinensischen Berichten zufolge kam es durch die Angriffe in ganz Dschenin zu Stromausfällen. Auch die Wasserversorgung wurde laut UNO beschädigt. Aber es sei schwierig, Informationen aus dem Camp zu erhalten, sagte Farhan Haq, Sprecher von UNO-Generalsekretär Antonio Guterres, gegenüber der BBC. Auf Videos waren mehrere zerstörte Straßen zu sehen. Das „Freedom Theatre“ im Zentrum der Stadt wurde ebenfalls getroffen, wie die Kultureinrichtung bestätigte.

Grafik zum Westjordanland
Grafik: APA/ORF; Quelle: peacenow.org.il

Die dicht besiedelte Stadt und das dazugehörende Flüchtlingslager gelten als Hochburg militanter Palästinenser. Finanziert werden die verschiedenen Gruppierungen vor allem vom Iran, einem Erzfeind des Staates Israel.

Netanjahu: Dschenin „Rückzugsort für Terrorismus“

„In den vergangenen Monaten ist Dschenin zu einem Rückzugsort für Terrorismus geworden, von dem aus heimtückische Attacken auf israelische Männer, Frauen und Kinder verübt wurden“, sagte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bei einem Auftritt am Montagabend.

„Israelische Soldaten tun alles dafür, um den Tod von Zivilisten zu vermeiden, während Israel alles dafür tut, um sein Recht auf Selbstverteidigung auszuüben.“ Ziel sei es, all jene auszuschalten, „die unser Land vernichten wollen“. Die Militäroffensive werde so lange dauern wie nötig, „um die Mission zu erfüllen“, wurde Netanjahu von israelischen Medien zitiert. Die UNO zeigte sich allerdings alarmiert über das Ausmaß der Operation und Luftangriffe auf ein dicht besiedeltes Flüchtlingslager.

ein Mann steht vor Trümmern
APA/AFP/Ronaldo Schemidt
Israel setzte seine Angriffe am Dienstag fort

Generalstreik im Westjordanland

Die Palästinensische Autonomiebehörde bekräftigte nach einem Treffen ihrer Führungsriege am Montagabend, dass es mit Israel in Sicherheitsfragen keine Zusammenarbeit mehr geben werde. Ähnliche Ankündigungen hatte die Autonomiebehörde schon bei früheren Gelegenheiten gemacht – sie wurden allerdings faktisch nicht umgesetzt.

Beide Seiten tauschen nachrichtendienstliche Informationen aus, um Terroranschläge zu verhindern und größere Einsätze in allein von der Autonomiebehörde kontrollierten Zonen zu koordinieren. Zudem soll verhindert werden, dass militante Gruppen die Oberhand in diesem Gebiet erlangen.

Aus Protest gegen den Militäreinsatz riefen mehrere Palästinenserorganisationen für Dienstag zu einem Generalstreik auf. An mehreren Orten waren Kundgebungen geplant. Zahlreiche Geschäfte und öffentliche Einrichtungen im Westjordanland und Ostjerusalem blieben geschlossen.

Gewalt nahm wieder zu

Die USA bekräftigten in einer ersten Reaktion Israels Recht auf Selbstverteidigung, riefen das Land aber gleichzeitig zu einer Wiederaufnahme der Sicherheitskooperation mit der Autonomiebehörde auf.

„Wir unterstützen Israels Sicherheit und sein Recht, die Bevölkerung gegen die Hamas, den palästinensischen Islamischen Dschihad und andere terroristische Gruppen zu verteidigen“, sagte ein Sprecher des Außenministeriums in Washington. Gleichzeitig sei es „zwingend notwendig, alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, um den Verlust von Menschenleben zu verhindern“, fügte der Sprecher hinzu.

Militäroffensive geht weiter

Die israelische Armee hat ihren Angriff auf das besetzte Westjordanland in der Nacht auf Dienstag fortgesetzt. Mindestens neun Menschen seien dabei getötet worden, teilte das palästinensische Gesundheitsministerium mit.

Die Sicherheitslage in Israel und in den palästinensischen Gebieten ist seit Langem angespannt, zuletzt nahm die Gewalt aber nochmals zu. Seit Beginn des Jahres kamen mehr als zwei Dutzend Menschen bei Anschlägen von Palästinensern ums Leben. Im gleichen Zeitraum wurden mehr als 140 Palästinenser bei gewaltsamen Zusammenstößen, israelischen Militäreinsätzen oder nach eigenen Anschlägen getötet.

Israel hatte das Westjordanland und Ostjerusalem während des Sechstagekrieges 1967 erobert. Die Palästinenser beanspruchen die Gebiete als Teil eines eigenen Staats. Eine Zweistaatenlösung für den seit Jahrzehnten währenden Nahost-Konflikt scheint jedoch in weiter Ferne.