Rauch über Dschenin
APA/AFP/Jaafar Ashtiyeh
Palästinenser und WHO

Israelische Angriffe auf Spitäler

Am zweiten Tag der israelischen Großoffensive im Westjordanland und vor allem auf das Flüchtlingslager in Dschenin zeigt sich die UNO „alarmiert“ über das Ausmaß der Boden- und Luftoperation. Die palästinensische Seite warf Israel vor, auch zivile Ziele, darunter Krankenhäuser, angegriffen zu haben. In Tel Aviv ereignete sich indes ein Anschlag. Ein Auto fuhr in eine Gruppe, mehrere Menschen wurden verletzt.

Das israelische Militär habe zivile Ziele und Häuser mit Hubschraubern und Raketen angegriffen, sagte Mustafa Barghuti, Mitglied des palästinensischen Legislativrats, der BBC. Auch Krankenhäuser, darunter das größte Spital in Dschenin, seien mit Tränengasbomben bombardiert worden. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bestätigte, dass mindestens zwei Spitäler angegriffen worden seien.

Schon zuvor hatten UNO- und Hilfsorganisation heftig kritisiert, dass der Zugang von Helfern in das Flüchtlingslager von Dschenin blockiert sei. Laut der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen ist es für Krankenwagen fast unmöglich, Patienten zu erreichen, da Bulldozer des israelischen Militärs die Zufahrtsstraßen zum Lager zerstört haben.

Israel kündigt Ende der Offensive an

Israel hat am Dienstag ein baldiges Ende der Großoffensive gegen Terroristen in der palästinensischen Stadt Dschenin angekündigt. Die Ziele seien weitgehend erreicht.

Schwierige Wasser- und Stromversorgung

Palästinensische Sanitäter seien nun gezwungen, sich zu Fuß in einem Gebiet zu bewegen, das unter Beschuss und Drohnenangriffen stehe. Blockaden wurden auch durch israelische Straßensperren gemeldet. OCHA, die UNO-Koordinierungsstelle für humanitäre Angelegenheiten, forderte den sofortigen Zugang von medizinischem Personal und warnte, dass Hunderte Menschen bei den Angriffen verletzt worden seien. Bisher starben offiziellen Angaben zufolge zehn Menschen, unter den Toten befinden sich laut BBC, die die Personenliste erhalten hat, vier Personen unter 18 Jahren. Das jüngste Todesopfer sei 16 Jahre alt gewesen.

Problematisch ist auch die Strom- und Wasserversorgung im Camp. Es gebe Berichte über Zerstörungen, es sei aber schwierig, zu Informationen aus dem Camp zu gelangen, sagte Farhan Haq, Sprecher von UNO-Generalsekretär Antonio Guterres, gegenüber der BBC: „Wir müssen sicherstellen, dass alles nach internationalem Recht abläuft, und das haben die Ereignisse der letzten 36 Stunden nicht gezeigt.“

Flüchtende Menschen in Dschenin
APA/AFP/Jaafar Ashtiyeh
Im Flüchtlingslager Dschenin wurde bei den Angriffen auch viel Infrastruktur zerstört

Einer geflohenen Bewohnerin des Flüchtlingslagers zufolge seien „alle Lebensbereiche zerstört“. „Wir sind gewissermaßen von der Welt abgeschnitten.“ Unklar ist, wie die israelischen Streitkräfte in einem dicht besiedelten Gebiet wie dem Flüchtlingslager wie von ihnen angekündigt gezielte Operationen durchführen können.

Tausende flohen aus Lager

Laut unterschiedlichen verfügbaren Zahlen leben im Flüchtlingslager Dschenin zwischen 14.000 und 18.000 Palästinenser und Palästinenserinnen. Nach palästinensischen Angaben flohen bisher rund 4.000 Menschen aus dem Lager. Uneinigkeit herrschte darüber, ob die israelische Armee angeordnet hat, dass die Palästinenser das Lager verlassen, wie die palästinensische Seite mitteilte.

Israelischen Medienberichten zufolge bestritten israelische Sicherheitsbeamte, dass es einen solchen Befehl zur Evakuierung gegeben habe. Laut Armee flüchteten die Menschen zu Tausenden vor den Kämpfen. Die dicht besiedelte Stadt Dschenin und das dazugehörende Flüchtlingslager gelten als Hochburg militanter Palästinenser. Finanziert werden die verschiedenen Gruppierungen vor allem vom Iran, einem Erzfeind des Staates Israel.

Flüchtende Menschen in Dschenin
AP/Majdi Mohammed
Laut israelischer Armee flohen die Menschen aus dem Lager aufgrund der Kämpfe

Erste Großoffensive seit rund 20 Jahren

Die israelische Armee war bereits in der Nacht auf Montag in die palästinensische Stadt Dschenin eingerückt und hatte damit ihre erste Großoffensive mit Drohnen, gepanzerten Fahrzeugen, Bulldozern und über 1.000 Soldaten und Soldatinnen seit rund 20 Jahren begonnen. Nach eigenen Angaben beschlagnahmte sie Waffen und Sprengstoff und nahm bisher mindestens 120 Verdächtige fest. Die Armee geht aber davon aus, dass sich noch mehr als 300 bewaffnete „Terroristen“ in Dschenin aufhalten. Zudem sei ein unterirdischer Schacht zur Lagerung von Sprengkörpern zerstört worden.

Israels Premierminister Benjamin Netanjahu verteidigte Montagabend die Offensive. Dschenin sei in den vergangenen Monaten ein Rückzugsort für Terrorismus geworden: „Israelische Soldaten tun alles dafür, um den Tod von Zivilisten zu vermeiden, während Israel alles dafür tut, um sein Recht auf Selbstverteidigung auszuüben.“ Ziel sei es, all jene auszuschalten, „die unser Land vernichten wollen“. Die Militäroffensive werde so lange dauern wie nötig, „um die Mission zu erfüllen“, wurde Netanjahu von israelischen Medien zitiert.

Grafik zum Westjordanland
Grafik: APA/ORF; Quelle: peacenow.org.il

Am Dienstag teilte der Nationale Sicherheitsberater Zachi Hanebi mit, dass Israel kurz davor sei, die gesetzten Ziele zu erreichen, und stellte ein baldiges Ende des Großeinsatzes in Aussicht. Es sollen aber Soldaten im Camp für weitere Durchsuchungen postiert werden.

Autonomiebehörde gegen Zusammenarbeit mit Israel

Die Palästinensische Autonomiebehörde bekräftigte nach einem Treffen ihrer Führungsriege am Montagabend, dass es mit Israel in Sicherheitsfragen keine Zusammenarbeit mehr geben werde. Ähnliche Ankündigungen hatte die Autonomiebehörde schon bei früheren Gelegenheiten gemacht – sie wurden allerdings faktisch nicht umgesetzt.

Beide Seiten tauschen nachrichtendienstliche Informationen aus, um Terroranschläge zu verhindern und größere Einsätze in allein von der Autonomiebehörde kontrollierten Zonen zu koordinieren. Zudem soll verhindert werden, dass militante Gruppen die Oberhand in diesem Gebiet erlangen.

Hamas: Tel-Aviv-Anschlag als „Reaktion“

Bei einem Anschlag vor einem Einkaufszentrum in Tel Aviv am Dienstagnachmittag wurden sieben Menschen verletzt, drei von ihnen schwer. Ein Auto sei in eine Gruppe von Fußgängern gefahren. Laut Polizei stach der Angreifer mit einem spitzen Gegenstand auf die Menschen ein. Bei dem Angreifer habe es sich um einen Palästinenser aus dem Westjordanland gehandelt. Die Polizei habe bereits mehrere Menschen, die mit dem Verdächtigen in Verbindung stehen, festgenommen. Eine bewaffnete Zivilperson habe den Angreifer getötet.

Schäden nach Anschlag in Tel-Aviv
AP/Oded Balilty
Bei einem mutmaßlichen Anschlag in Tel Aviv wurden mehrere Menschen verletzt

Die im Gazastreifen herrschende islamistische Palästinenserorganisation Hamas sowie die Terrororganisation Islamischer Dschihad bezeichneten den Anschlag als „erste Reaktion“ auf den israelischen Militäreinsatz. Es sei ein Zeichen dafür, dass die „Besatzung den Preis für die Verbrechen in Dschenin zahlen wird“, so ein Hamas-Sprecher. Später teilte die Organisation mit, dass der Angreifer Hamas-Mitglied gewesen sei, der für den israelischen Angriff Vergeltung geübt habe.

Aus Protest gegen den Militäreinsatz riefen zudem mehrere Palästinenserorganisationen für Dienstag zu einem Generalstreik auf. An mehreren Orten waren Kundgebungen geplant. Zahlreiche Geschäfte und öffentliche Einrichtungen im Westjordanland und Ostjerusalem blieben geschlossen.

USA und Deutschland stellen sich hinter Israel

Die USA bekräftigten Israels Recht auf Selbstverteidigung, riefen das Land aber gleichzeitig zu einer Wiederaufnahme der Sicherheitskooperation mit der Autonomiebehörde auf. Die Sicherheitslage in Israel und in den palästinensischen Gebieten ist seit Langem angespannt, zuletzt nahm die Gewalt aber nochmals zu.

Auch Deutschland bekräftigte Israels Recht auf Selbstverteidigung. Die Regierung rief jedoch auch zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit auf. „Israel hat, wie jeder Staat, das Recht, sich gegen Terror zu verteidigen“, sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amts in Berlin.

Allerdings müsse das völkerrechtliche Prinzip der Verhältnismäßigkeit gewahrt werden und der Schutz von Zivilistinnen und Zivilisten immer oberstes Gebot sein, fügte er hinzu.

Seit Beginn des Jahres kamen mehr als zwei Dutzend Menschen bei Anschlägen von Palästinensern ums Leben. Im gleichen Zeitraum wurden mehr als 140 Palästinenser bei gewaltsamen Zusammenstößen, israelischen Militäreinsätzen oder nach eigenen Anschlägen getötet.