Mark Rutte vor Journalisten
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Regierung zerbrochen

Niederlande vor turbulenten Zeiten

Nach dem Bruch der niederländischen Regierung im Streit über die Migrationspolitik ist Ministerpräsident Mark Rutte am Samstag mit König Willem-Alexander zusammengetroffen. Eine Neuwahl wird frühestens im November stattfinden. Dass sie eine Lösung der zahlreichen politischen Baustellen bringt, ist aber fraglich.

Die Unterschiede zwischen den vier Koalitionsparteien bei der Asyl- und Migrationspolitik seien unüberbrückbar, sagte der konservativ-liberale Premier Freitagabend in Den Haag. Er bedaure den Schritt, er sei aber „eine politische Realität“.

Rutte kündigte an, er wolle bis dahin geschäftsführend im Amt bleiben und sich weiter um die anstehenden Aufgaben kümmern, darunter die Unterstützung der Ukraine gegen den russischen Angriffskrieg. Er habe auch weiterhin die „Energie“, um bei einer Neuwahl als Spitzenkandidat seiner Mitte-rechts-Partei VVD zu kandidieren, müsse darüber aber zunächst „nachdenken“.

Streit über schärfere Zuwanderungsregeln

Medienberichten zufolge waren die Spannungen innerhalb der Regierungskoalition eskaliert, nachdem Ruttes VVD strengere Regeln für Asylsuchende vorgeschlagen und gedroht hatte, das Kabinett zu verlassen, wenn diese Maßnahmen nicht verabschiedet würden.

Niederländische Regierung tritt zurück

Die Regierung in den Niederlanden wird aufgelöst. Die Koalition ist an Fragen der Asylpolitik gescheitert.

Unter anderem hatte Rutte gefordert, die Familienzusammenführung von Flüchtlingen zu erschweren. Tagelange Krisengespräche zwischen den Koalitionspartnern hätten zu keiner Einigung geführt, sagte Rutte Freitagabend.

Scharfe Töne in der Koalition

Die christdemokratische Partei Christen Unie hatte erklärt, sie könne „mit Ruttes Vorschlag nicht leben“. Christen-Unie-Politikerin und Vizeregierungschefin Carola Schouten sagte, es sei ein „zentraler Wert“ für ihre Partei, dass „Kinder mit ihren Eltern aufwachsen“.

Auch die Mitte-links-Partei D66 von Finanzministerin Sigrid Kaag lehnte die Forderung Ruttes Berichten zufolge nach dreitägigen Krisengesprächen ab. Kaag bezeichnete den Sturz der Regierung als „bedauerlich“ und die Spannungen innerhalb der Koalition als „unnötig“. Außenminister Wopke Hoekstra vom vierten Koalitionspartner, der christdemokratischen CDA, nannte das Auseinanderbrechen der Koalition „sehr enttäuschend“ und „dem Volk gegenüber unerklärlich“.

Verheerende Lage in Asylzentren

Die niederländische Regierung stritt seit ihrem Amtsantritt vor eineinhalb Jahren über das Thema. Um zu sparen, hatte die Regierung Personal und Plätze in Aufnahmezentren gestrichen. Die Wartezeit für die Bearbeitung von Asylanträgen wurde zunehmend länger. Zusätzlich sorgt die allgemeine Misere auf dem Wohnungsmarkt dafür, dass kaum Plätze in den Wohnheimen frei werden.

Im Vorjahr sorgten der Tod eines Babys in einem Asylzentrum und Bilder von Hunderten Menschen, die wegen Platzmangels im Freien übernachten mussten, für Entsetzen. Ruttes vorherige Regierung war 2021 nach einer Affäre um Kindergeldzuschläge zurückgetreten.

Hitziger Wahlkampf erwartet

Laut niederländischer Wahlbehörde kann frühestens Mitte November eine Neuwahl stattfinden. Der anstehende Wahlkampf dürfte hitzig werden. Die erst vor vier Jahren gegründete und infolge der Proteste gegen die von der EU unterstützen Klimaschutzpläne erstarkte Bauern-Bürger-Bewegung (BBB) will nach einem deutlichen Wahlerfolg bei den Provinzwahlen im März auch bei der nationalen Parlamentswahl hinzugewinnen.

Mark Rutte  und Geert Wilders
APA/AFP/Bart Maat
Rutte (l.) ist seit 13 Jahren Premierminister

Der Druck durch die BBB dürfte niederländischen Medien zufolge auch zum Sturz der Regierung beigetragen haben: Rutte habe Härte in der Asylpolitik zeigen wollen, um sich gegenüber dem rechten Flügel seiner Partei VVD zu profilieren, da die BBB inzwischen auch um enttäuschte VVD-Wählerinnen und -Wähler wirbt.

Zahl der Asylanträge stark gestiegen

Wie andere europäische Länder auch ringen die Niederlande mit der Frage, wie sie mit der starken Zuwanderung umgehen sollen. Die Zahl der Asylanträge in den Niederlanden stieg im vergangenen Jahr um ein Drittel auf über 46.000 und soll in diesem Jahr auf mehr als 70.000 anwachsen – ein neuer Höchststand seit 2015.

Rutte ist seit knapp 13 Jahren Ministerpräsident der Niederlande und damit einer der am längsten amtierenden Regierungschefs der EU. Seit Jänner 2022 führte er sein viertes Kabinett nach Koalitionsverhandlungen, die gut neun Monate gedauert hatten und damit die längsten in der Geschichte des Landes waren.

Zahlreiche politische Problemfelder

Neben der Migrationspolitik sorgen sich die Menschen in den Niederlanden auch um die Wohnungsnot, die Energiewende sowie die Klimapolitik. Einer der großen Konflikte ist die Zukunft der Landwirtschaft angesichts angekündigter Umweltauflagen.

Dass das Zerbrechen der Koalition die Sacharbeit der weiter amtierenden Regierung bremsen wird, zeigt sich bereits am kommenden Montag: Statt wie geplant einen Arbeitsbesuch in der von Folgen der Erdgasförderung betroffenen Region Groningen zu absolvieren, wird Rutte außerplanmäßig dem Parlament zur Krise Rede und Antwort stehen. Wirtschaftsverbände pochen bereits darauf, dass wichtige Entscheidungen mit Blick auf den Arbeitsmarkt und die Kaufkraft der Bevölkerung nicht aufgeschoben werden können.