der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan
AP/Burhan Ozbilici
Vor NATO-Gipfel

Erdogan überrascht mit Forderung an EU

Einen Tag vor Beginn des NATO-Gipfels im litauischen Vilnius hat der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan mit einer Forderung an die Europäische Union überrascht. Ankara wird laut Erdogan seine Blockade gegen eine NATO-Aufnahme Schwedens aufgeben, wenn Brüssel die Gespräche über einen EU-Beitritt der Türkei wiederaufnimmt. Im Fall der Ukraine wird hinter den Kulissen unterdessen an Sicherheitszusagen gearbeitet – eine offizielle Beitrittseinladung dürfte es nicht geben.

Angesichts des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine hatten Schweden und Finnland im Mai 2022 die Mitgliedschaft in der NATO beantragt. Finnland ist bereits seit Anfang April Mitglied. Schweden fehlt dagegen nach wie vor die Zustimmung der Türkei und Ungarns.

Im Vorfeld des NATO-Gipfels äußerten die USA und Deutschland die Hoffnung, die Türkei könnte ihre Blockadehaltung aufgeben. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg traf Montagnachmittag Schwedens Ministerpräsidenten Ulf Kristersson und Erdogan.

„Türkei hat 50 Jahre gewartet“

Erdogan ließ vor dem Treffen mit einer überraschenden Forderung aufhorchen: Er knüpfte die Zustimmung seines Landes zum schwedischen Beitritt an die Wiederaufnahme der EU-Beitrittsgespräche. „Öffnet erst den Weg für den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union, und dann öffnen wir den Weg für Schweden“, sagte der türkische Präsident.

„Ich möchte eine Tatsache unterstreichen. Die Türkei hat 50 Jahre vor der Tür der EU gewartet“, so Erdogan: „Fast alle NATO-Mitglieder sind auch EU-Mitglieder. Ich wende mich nun an diese Länder, die die Türkei sei über 50 Jahren haben warten lassen, und ich werde mich erneut an sie in Vilnius wenden.“

Erdogan überrascht mit Forderung an EU

Im Vorfeld des NATO-Gipfels, der am Dienstag in Litauen beginnt, überrascht der türkische Präsident Erdogan mit einer neuen Forderung: Ankara wird laut Erdogan seine Blockade gegen eine NATO-Aufnahme Schwedens aufgeben, wenn Brüssel die Gespräche über einen EU-Beitritt der Türkei wiederaufnimmt.

Bisher hatte die türkische Führung den schwedischen Beitritt unter Verweis darauf blockiert, dass das skandinavische Land nicht ausreichend gegen „Terrororganisationen“ vorgehe – dabei geht es ihr vor allem um die PKK. Dass jüngst erstmals seit Monaten wieder ein Koran bei einer Demonstration in Stockholm angezündet wurde, hat das Verhältnis zu Ankara zuletzt zusätzlich belastet.

Die EU hatte bereits 2005 mit der Türkei Beitrittsgespräche begonnen. Diese wurden allerdings vor einigen Jahren wieder auf Eis gelegt, weil Brüssel inakzeptable Entwicklungen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit sah. Erdogan hatte auch lange Zeit kein gesteigertes Interesse daran gezeigt, dass der EU-Annäherungsprozess wieder an Fahrt gewinnt.

Erdogan war Ende Mai nach 20 Jahren an der Macht erneut zum Präsidenten gewählt worden. Der Wahlkampf galt als unfair, unter anderem weil die Medien zum großen Teil unter Kontrolle der Regierung stehen und politische Gegner im Gefängnis sitzen.

ORF-Korrespondenten zum NATO-Gipfel

Die ORF-Korrespondenten Christian Wehrschütz, Jörg Winter und Benedict Feichtner sprechen zu den Erwartungen und Ereignissen rund um den bevorstehenden NATO-Gipfel in Litauen.

Absage aus Österreich

Von Österreich kam umgehend eine Absage an Erdogans Forderung. „Die österreichische Position zu einem türkischen EU-Beitritt ist hinlänglich bekannt und hat sich auch nicht verändert“, teilte das Außenministerium der APA am Montagnachmittag auf Anfrage mit. Die Frage über die NATO-Erweiterung sei „eine NATO-interne Angelegenheit“ und es gebe dazu „derzeit auch keine Diskussion innerhalb der EU“.

Die Ablehnung eines EU-Beitritts der Türkei ist seit Jahren parteiübergreifend österreichische Regierungspolitik. Als die damalige rot-schwarze Bundesregierung im Jahr 2016 offen den Abbruch der Beitrittsgespräche mit der Türkei forderte, reagierte Ankara mit einer Blockade der NATO-Kooperation mit Österreich. Erst im Vorjahr wurde die Blockade wieder aufgehoben.

Auch der deutsche Kanzler Olaf Scholz sprach sich gegen Erdogans Forderung aus. Beide Fragen würden nicht zusammenhängen, sagte Scholz. „Deshalb, finde ich, sollte man das nicht als ein zusammenhängendes Thema verstehen.“ Scholz bekräftigte, dass Schweden alle Voraussetzungen für einen NATO-Beitritt erfülle.

USA: Zusammenarbeit mit Israel als Vorbild für Kiew

Für die Ukraine dürfte es auf dem Gipfel indes keine Beitrittseinladung der NATO geben. Der NATO-Beitritt „ist ein Prozess, der einige Zeit braucht“, sagte US-Präsident Joe Biden dem US-Fernsehsender CNN mit Blick auf den Wunsch der Ukraine nach einem raschen Beitritt zu dem westlichen Militärbündnis. Ähnliches war aus deutschen Regierungskreisen zu hören: „Für eine Einladung der Ukraine, für konkrete Schritte in Richtung Mitgliedschaft (ist) der Zeitpunkt nicht da“, hieß es. „Hierfür gibt es auch unter den Verbündeten keinen Konsens.“

Allerdings bot Biden Kiew bilaterale Sicherheitsgarantien an, wie sie die USA derzeit schon Israel gegenüber bieten. „In der Zwischenzeit (…) wären die Vereinigten Staaten bereit, (…) Sicherheit zu bieten“, so wie die USA es für Israel täten, sagte Biden. Nötig dafür sei ein Waffenstillstand oder ein Friedensabkommen. In einem solchen Falle könne Washington der Ukraine Waffen bereitstellen und das Land mit Fähigkeiten ausstatten, um sich selbst verteidigen zu können.

Bidens Nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan sagte: „Das Konzept sieht vor, dass die Vereinigten Staaten zusammen mit anderen Verbündeten und Partnern innerhalb eines multilateralen Rahmens bilaterale Sicherheitsverpflichtungen mit der Ukraine auf lange Sicht aushandeln.“

Kiew ortet positive Signale

Kiew ortete indes positive Signale. Die NATO werde im Fall der Ukraine nach Angaben von Außenminister Dmytro Kuleba von dem für einen Beitritt üblichen „Membership Action Plan“ (MAP) zur Heranführung an die Standards der Allianz absehen. Darauf hätten sich die 31 NATO-Staaten nach „intensiven Gesprächen“ verständigt, so Kuleba. „Ich begrüße diese langerwartete Entscheidung, die unseren Weg in die NATO abkürzt“, so der Außenminister.

NATO-Generalsekretär Stoltenberg sagte, die Mitglieder hätten noch keine endgültige Entscheidung über die Beitrittsperspektive der Ukraine getroffen. Konsultationen über die Bedingungen für den Weg der Ukraine zur NATO-Mitgliedschaft seien weiterhin im Gange.

Auch Ungarn bremst

Ungarn wiederum lässt sich mit der Ratifizierung von Schwedens Beitrittsansuchen bereits seit mehr als einem Jahr Zeit. Eine für Ende Juni geplante Abstimmung wurde verschoben und dürfte frühestens im Herbst über die Bühne gehen.

Schwedische Politikerinnen und Politiker hätten Ungarn „jahrelang attackiert mit ungerechtfertigten Vorwürfen zur Rechtsstaatlichkeit und zur politischen Situation“, begründete Justizministerin Judit Varga die Zurückhaltung Budapests gegenüber dem ORF-Büro Brüssel. Es müsse erst „gegenseitiges Vertrauen“ aufgebaut werden.

Biden traf Sunak

Biden traf vor dem NATO-Gipfel indes Großbritanniens Premier Rishi Sunak und König Charles III. Biden wurde am Montag von Sunak am britischen Regierungssitz Downing Street in London empfangen. Die beiden verständigten sich nach Angaben von Sunaks Büro darauf, die Partnerschaft zwischen beiden Ländern weiter zu stärken „und unsere Unterstützung für die Ukraine beizubehalten“.

Nach dem Treffen reiste Biden weiter zum NATO-Gipfel nach Litauen. Die Präsidentenmaschine Air Force One landete am Abend (Ortszeit) auf dem internationalen Flughafen in Vilnius. Der 80-Jährige wurde von Litauens Staatspräsident Gitanas Nauseda begrüßt. Mit Biden reiste auch US-Außenminister Antony Blinken.

NATO-Staaten billigen neue Abwehrpläne gegen Russland

Unterdessen haben sich die NATO-Staaten auf neue Pläne für die Abwehr von möglichen russischen Angriffen auf das Bündnisgebiet verständigt. Die Annahme der Dokumente erfolgte am Montag in einem schriftlichen Verfahren, wie die dpa von mehreren Diplomaten erfuhr. Die Entscheidung soll am Dienstag von den Staats- und Regierungschefs noch einmal bestätigt und dann offiziell verkündet werden.

Die insgesamt mehr als 4.000 Seiten starken Verteidigungspläne beschreiben nach Informationen der dpa detailliert, wie kritische Orte im Bündnisgebiet durch Abschreckung geschützt und im Ernstfall verteidigt werden sollten. Dafür wird auch definiert, welche militärischen Fähigkeiten notwendig sind. Neben Land-, Luft- und Seestreitkräften sind auch Cyber- und Weltraumfähigkeiten eingeschlossen.