NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, türkischer Präsident Tayyip Erdogan und schwedischer Premierminister Ulf Kristersson
APA/AFP/Yves Herman
Schwedens NATO-Beitritt

Noch keine Anzeichen auf Einigung mit Türkei

Am Vorabend des am Dienstag in der litauischen Hauptstadt Vilnius beginnenden NATO-Gipfels steht das Ringen um den NATO-Beitritt Schwedens im Zentrum der Aufmerksamkeit. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ist mit dem schwedischen Ministerpräsidenten Ulf Kristersson und NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg zusammengetroffen. Bis jetzt sperrt sich Ankara gegen einen Beitritt der Schweden – und hat am Montag mit einer unerwarteten Forderung überrascht.

Ankara wird laut Erdogan seine Blockade gegen eine NATO-Aufnahme Schwedens aufgeben, wenn Brüssel die Gespräche über einen EU-Beitritt der Türkei wiederaufnimmt. „Öffnet erst den Weg für den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union, und dann öffnen wir den Weg für Schweden“, sagte Erdogan.

Nach Angaben von Diplomaten wurde Erdogans Treffen mit Kristersson und Stoltenberg dann am Abend für die Beratungen mit EU-Ratspräsident Charles Michel unterbrochen. Erdogan und Michel hätten vereinbart, die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU „neu zu beleben“, wie es hieß.

„Türkei hat 50 Jahre gewartet“

„Ich möchte eine Tatsache unterstreichen. Die Türkei hat 50 Jahre vor der Tür der EU gewartet“, so Erdogan: „Fast alle NATO-Mitglieder sind auch EU-Mitglieder. Ich wende mich nun an diese Länder, die die Türkei sei über 50 Jahren haben warten lassen, und ich werde mich erneut an sie in Vilnius wenden.“ Die EU-Kommission und einige EU-Staaten reagierten zurückhaltend auf die Forderung und verwiesen darauf, dass die beiden Themen nicht zusammenhängen.

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, türkischer Präsident Tayyip Erdogan und schwedischer Premierminister Ulf Kristersson
APA/AFP/Yves Herman
Stoltenberg, Erdogan und Kristersson beim Zusammentreffen in Vilnius

Gespräche der EU mit Ankara „auf Eis gelegt“

Bisher hatte die türkische Führung den schwedischen Beitritt unter Verweis darauf blockiert, dass das skandinavische Land nicht ausreichend gegen „Terrororganisationen“ vorgehe – dabei geht es ihr vor allem um die PKK. Dass jüngst erstmals seit Monaten wieder ein Koran bei einer Demonstration in Stockholm angezündet wurde, hat das Verhältnis zu Ankara zuletzt zusätzlich belastet.

Die EU hatte bereits 2005 mit der Türkei Beitrittsgespräche begonnen. Diese wurden allerdings vor einigen Jahren wieder auf Eis gelegt, weil Brüssel inakzeptable Entwicklungen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit sah. Erdogan hatte auch lange Zeit kein gesteigertes Interesse daran gezeigt, dass der EU-Annäherungsprozess wieder an Fahrt gewinnt.

NATO-Gipfel: Erdogan stellt Forderungen

Am Dienstag startet in Litauen der zweitägige NATO-Gipfel. Nach Finnland soll jetzt Schweden ins transatlantische Verteidigungsbündnis aufgenommen werden, doch das NATO-Mitgliedsland Türkei blockiert den Beitritt. Der türkische Präsident Erdogan überrascht mit einer neuen Forderung: Er will, dass die Gespräche über einen EU-Beitritt der Türkei wieder aufgenommen werden.

Erdogan war Ende Mai nach 20 Jahren an der Macht erneut zum Präsidenten gewählt worden. Der Wahlkampf galt als unfair, unter anderem weil die Medien zum großen Teil unter Kontrolle der Regierung stehen und politische Gegner im Gefängnis sitzen.

Auch Ungarn bremst

Ungarn wiederum lässt sich mit der Ratifizierung von Schwedens Beitrittsansuchen bereits seit mehr als einem Jahr Zeit. Eine für Ende Juni geplante Abstimmung wurde verschoben und dürfte frühestens im Herbst über die Bühne gehen. Schwedische Politikerinnen und Politiker hätten Ungarn „jahrelang attackiert mit ungerechtfertigten Vorwürfen zur Rechtsstaatlichkeit und zur politischen Situation“, begründete Justizministerin Judit Varga die Zurückhaltung Budapests gegenüber dem ORF-Büro Brüssel. Es müsse erst „gegenseitiges Vertrauen“ aufgebaut werden.

Absage aus Österreich

Von Österreich kam umgehend eine Absage an Erdogans Forderung. „Die österreichische Position zu einem türkischen EU-Beitritt ist hinlänglich bekannt und hat sich auch nicht verändert“, teilte das Außenministerium der APA am Montagnachmittag auf Anfrage mit. Die Frage über die NATO-Erweiterung sei „eine NATO-interne Angelegenheit“ und es gebe dazu „derzeit auch keine Diskussion innerhalb der EU“.

Die Ablehnung eines EU-Beitritts der Türkei ist seit Jahren parteiübergreifend österreichische Regierungspolitik. Als die damalige rot-schwarze Bundesregierung im Jahr 2016 offen den Abbruch der Beitrittsgespräche mit der Türkei forderte, reagierte Ankara mit einer Blockade der NATO-Kooperation mit Österreich. Erst im Vorjahr wurde die Blockade wieder aufgehoben.

Auch der deutsche Kanzler Olaf Scholz sprach sich gegen Erdogans Forderung aus. Beide Fragen würden nicht zusammenhängen, sagte Scholz. „Deshalb, finde ich, sollte man das nicht als ein zusammenhängendes Thema verstehen.“ Scholz bekräftigte, dass Schweden alle Voraussetzungen für einen NATO-Beitritt erfülle.

USA: EU-Beitritt der Türkei hat nichts mit Schweden zu tun

Auch nach Auffassung der US-Regierung handle es sich um „getrennte Fragen“. „Die Vereinigten Staaten haben die EU-Bestrebungen der Türkei jahrelang unterstützt und tun dies auch weiterhin“, sagte der Sprecher des US-Außenministeriums, Matthew Miller, am Montag in Washington. Es handle sich aber um eine Angelegenheit zwischen der EU und der Türkei.

Die Frage nach einer Wiederaufnahme des vor Jahren auf Eis gelegten EU-Beitrittsprozess für die Türkei sollte kein „Hindernis“ für den Beitritt Schwedens in das Verteidigungsbündnis sein, sagte Miller. Die US-Regierung sei der Auffassung, dass die Maßnahmen Schwedens ausreichend gewesen seien, um die von der Türkei geäußerten Besorgnisse auszuräumen. „Wir denken, dass es für Schweden an der Zeit ist, der NATO beizutreten“, sagte Miller weiter.

US-Präsident Joe Biden
Reuters/Kevin Lamarque
Biden bei seiner Ankunft in Vilnius

USA: Zusammenarbeit mit Israel als Vorbild für Kiew

Für die Ukraine dürfte es auf dem Gipfel indes keine Beitrittseinladung der NATO geben. Der NATO-Beitritt „ist ein Prozess, der einige Zeit braucht“, sagte US-Präsident Joe Biden dem US-Fernsehsender CNN mit Blick auf den Wunsch der Ukraine nach einem raschen Beitritt zu dem westlichen Militärbündnis. Ähnliches war aus deutschen Regierungskreisen zu hören: „Für eine Einladung der Ukraine, für konkrete Schritte in Richtung Mitgliedschaft (ist) der Zeitpunkt nicht da“, hieß es. „Hierfür gibt es auch unter den Verbündeten keinen Konsens.“

Allerdings bot Biden Kiew bilaterale Sicherheitsgarantien an, wie sie die USA derzeit schon Israel gegenüber bieten. „In der Zwischenzeit (…) wären die Vereinigten Staaten bereit, (…) Sicherheit zu bieten“, so wie die USA es für Israel täten, sagte Biden. Nötig dafür sei ein Waffenstillstand oder ein Friedensabkommen. In einem solchen Falle könne Washington der Ukraine Waffen bereitstellen und das Land mit Fähigkeiten ausstatten, um sich selbst verteidigen zu können.

Bidens Nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan sagte: „Das Konzept sieht vor, dass die Vereinigten Staaten zusammen mit anderen Verbündeten und Partnern innerhalb eines multilateralen Rahmens bilaterale Sicherheitsverpflichtungen mit der Ukraine auf lange Sicht aushandeln.“

Selenskyj fordert „klares Signal“

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj forderte Montagabend noch ein „klares Signal“. Die Ukraine verdiene es, in der Allianz zu sein, sagte Selenskyj in einer via Telegram veröffentlichten Videobotschaft. „Nicht jetzt, denn jetzt herrscht Krieg, aber wir brauchen ein klares Signal, und dieses Signal wird jetzt gebraucht“, sagte Selenskyj.

NATO-Generalsekretär Stoltenberg sagte, die Mitglieder hätten noch keine endgültige Entscheidung über die Beitrittsperspektive der Ukraine getroffen. Konsultationen über die Bedingungen für den Weg der Ukraine zur NATO-Mitgliedschaft seien weiterhin im Gange.

Duda erwartet keine formelle Einladung an Kiew

Nach Angaben des polnischen Präsidenten Andrzej Duda wird der Gipfel kein Startsignal für die Aufnahme der Ukraine in die Allianz geben. Duda sagte in einem Interview mit „Bild“, „Welt“ und „Politico“: „Ich denke nicht, dass die Ukraine eine Einladung in die NATO bekommen wird im formellen Sinn. Die Einladung ist ja ein entscheidender Schritt zur Mitgliedschaft.“

Der Präsident stellte aber klar: „Ich würde es begrüßen, wenn es eine solche Entscheidung geben würde.“ Duda will in Vilnius dafür werben, dass die NATO-Außenminister bei ihrer Tagung im November mit der Einleitung des Bewertungsverfahrens der Ukraine ein deutliches Zeichen setzen, „dass das Verfahren der Aufnahme begonnen hat.“

NATO-Staaten billigen neue Abwehrpläne gegen Russland

Unterdessen haben sich die NATO-Staaten auf neue Pläne für die Abwehr von möglichen russischen Angriffen auf das Bündnisgebiet verständigt. Die Annahme der Dokumente erfolgte am Montag in einem schriftlichen Verfahren, wie die dpa von mehreren Diplomaten erfuhr. Die Entscheidung soll am Dienstag von den Staats- und Regierungschefs noch einmal bestätigt und dann offiziell verkündet werden.

Die insgesamt mehr als 4.000 Seiten starken Verteidigungspläne beschreiben nach Informationen der dpa detailliert, wie kritische Orte im Bündnisgebiet durch Abschreckung geschützt und im Ernstfall verteidigt werden sollten. Dafür wird auch definiert, welche militärischen Fähigkeiten notwendig sind. Neben Land-, Luft- und Seestreitkräften sind auch Cyber- und Weltraumfähigkeiten eingeschlossen.