Ein Moor
Reuters/Phil Noble
Ausgang offen

Entscheidungstag für EU-Naturschutzpläne

Am Mittwoch stimmen die EU-Abgeordneten in Straßburg über das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur ab. Der Ausgang des Votums ist ungewiss. Die Europäische Volkspartei (EVP) hielt bis zuletzt an ihrer im Frühjahr entdeckten Fundamentalopposition fest. Wird das Vorhaben abgelehnt, droht ihm das endgültige Aus – und dem „Green Deal“ der Kommission ein herber Rückschlag.

Von sommerlicher Entspannung kann im EU-Parlament in Straßburg noch nicht die Rede sein. In der gerade laufenden Plenarwoche bereiten sich die Abgeordneten auf eine Abstimmung vor, deren Ausgang sich kaum redlich vorhersagen lässt: Nach wochenlangem Hin und Her steht Mittwochmittag das Umweltgesetz zur Wiederherstellung der Natur – kurz auch Renaturierungsgesetz genannt – im Plenum zur Abstimmung.

Kaum ein Gesetzesvorhaben der vergangenen Zeit hatte im Vorfeld für einen derart heftigen Schlagabtausch gesorgt. Das zeigte sich im Juni auch im Umweltausschuss des EU-Parlaments. 44 zu 44 ging die Abstimmung im Ausschuss aus – was ob einer fehlenden Mehrheit einer Ablehnungsempfehlung für das Parlamentsplenum gleichkam.

EU plant Gesetz zur Renaturierung

Die EU stimmt am Mittwoch über ein Gesetz zur Wiederherstellung der Natur ab. Bis zu 20 Prozent der zerstörten Flächen sollen renaturiert werden. Kritik hagelt es von der Europäischen Volkspartei, da auch landwirtschaftliche Flächen betroffen wären.

Noch am Dienstag standen einander in Straßburg vor dem EU-Parlament Befürworter und Gegner der Gesetzespläne lautstark gegenüber: Auf der einen Seite „Fridays for Future“ mit Greta Thunberg in ihrer Mitte. Auf der anderen Seite Bäuerinnen und Bauern, die vor „sinnlosen Gesetzen“ warnten.

Menschen bei einer Dmeonstration vor dem EU-Parlament in Strassburg
Reuters/Greens/Efa Group
Noch einen Tag vor der Abstimmung wurde in Straßburg lautstark für das Gesetz demonstriert – aber auch dagegen

EVP gegen EU-Kommission

Die Gegner des Gesetzes konnten neben den rechtsnationalen Parteien auch die größte Fraktion im EU-Parlament hinter sich wissen. Die Europäische Volkspartei unter ihrem Vorsitzenden Manfred Weber (CSU) war in den vergangenen Wochen lautstark in Opposition zu dem Gesetzesvorhaben der EU-Kommission gegangen.

Europäischer „Green Deal“

Der Europäische „Green Deal“ sieht vor, dass die EU-weiten Emissionen bis 2050 auf null reduziert werden. Das Ziel ist rechtlich verbindlich im EU-Klimagesetz verankert. Bis 2030 sollen die Nettotreibhausgasemissionen um mindestens 55 Prozent gegenüber 1990 gesenkt werden.

Manche sahen darin schon eine bewusste Zuspitzung mit Hinblick auf die EU-Wahl im kommenden Jahr – auch weil die bürgerliche Fraktion mit ihrem Vorgehen auf Konfrontation mit der Kommissionsvorsitzenden Ursula von der Leyen ging, die doch selbst aus den Reihen der EVP kommt. Das Renaturierungsgesetz ist ein wichtiger Bestandteil des „Green Deal“, den von der Leyen zu Beginn ihrer Präsidentschaft verkündet hatte.

Laut der EU-Kommission soll das Gesetzesvorhaben die Biodiversität verbessern und damit auch dem menschengemachten Klimawandel entgegenwirken. Über 80 Prozent der geschützten Lebensräume in der EU befinden sich nach Angaben der Kommission in einem schlechten Zustand. Der Gesetzesvorschlag sieht vor, bis 2030 mindestens 20 Prozent der Flächen und Meeresgebiete in der EU zu renaturieren. Bis 2050 sollen alle Ökosysteme, die einer Renaturierung bedürfen, wiederhergestellt werden. Dabei ist es – wie so oft in der EU-Gesetzgebung – an den Mitgliedsstaaten selbst, die entsprechenden Maßnahmen zu erarbeiten.

Ängste und Sorgen hervorgehoben

Allerdings sollen die Vorgaben explizit nicht nur Naturschutzgebiete betreffen, sondern auch bewirtschaftete Flächen wie Wälder, Felder und auch städtische Gebiete. So soll etwa die Grünfläche in den Städten in den kommenden drei Jahrzehnten um fünf Prozent anwachsen. Der Einsatz von Pestiziden soll stark reduziert und in „empfindlichen Gebieten“ gänzlich verboten werden. Monokulturen sollen zurückgedrängt und entwässerte, landwirtschaftlich genutzte Moorgebiete wiederhergestellt werden.

Estnische Erntehelfer
Reuters/Janis Laizans
Gefährdet die Renaturierung die Landwirtschaft? Die EVP hat darauf eine klare Antwort.

Solche Vorgaben sind es, an denen die EVP im Frühjahr begann, sich festzubeißen. Das Gesetz berücksichtige die Bedürfnisse von Landwirtinnen und Landwirten zu wenig, würde zum Verlust von landwirtschaftlicher Fläche führen und am Ende sogar die Ernährungssicherheit in Gefahr bringen. In Postings in sozialen Netzwerken warnte die EVP auch davor, dass selbst in Städten mit viel Grünfläche wie Helsinki Gebäude abgerissen werden müssten, und in den Niederlanden Windkraftwerke den Betrieb einstellen müssten.

Letzterer Behauptung widersprach sogar die europäische Windkraftlobby. Und in Reaktion auf das Helsinki-Posting sah sich sogar die EU-Kommission zu einem öffentlichen Widerspruch auf Twitter veranlasst – etwas, das so quasi nie vorkommt.

Offener Brief aus Wissenschaft

Fast genauso ungewöhnlich ist es, dass eine Nachrichtenagentur wie die dpa sich in einer solchen Diskussion zu einem Faktencheck veranlasst sieht. Drei Behauptungen der EVP nahm die dpa aber genauer unter die Lupe – darunter den Vorwurf, das Naturschutzgesetz würde „unsere Ernährungssicherheit gefährden“. Das sei zumindest „unwahrscheinlich“, so die dpa. Überhaupt „irreführend“ sei das Argument, dass das neue Gesetz Bauern zwinge, zehn Prozent ihres Agrarlands aufzugeben.

Die Agentur berief sich dabei auch auf einen offenen Brief, den bereits über 6.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der gesamten EU unterschrieben hatten. Die Forschenden fordern in dem Schreiben von der EU-Politik ein Festhalten an den Naturschutzplänen. Die Befürchtungen der Kritikerinnen und Kritiker bezeichnen sie als „unbegründet“.

Es gebe bisher eben „keine Lösungen für Renaturierung, es gibt keine Lösungen für urbane Umgebungen, und auch in der Landwirtschaft versagt die Politik der gemeinsamen Agrarpolitik schon seit Jahren“, sagte Guy Pe’er vom Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung Halle-Jena-Leipzig dieser Tage bei einem Pressegespräch. Der Ökologe ist einer der Initiatoren des offenen Briefes. Sebastian Lakner, Agrarökonom an der Uni Rostock, sah in im Naturschutz der EU ein „massives Vollzugsdefizit“.

EVP bleibt bei „Zurück zum Start“

Auf offene Ohren stoßen die Forschenden wie auch Umweltverbände bei den Fraktionen, die hinter dem Gesetz stehen – darunter die Sozialdemokraten und die Grünen. Laut dem grünen EU-Parlamentarier Thomas Waitz führt die EVP einen „Krieg gegen den Green Deal“. Der SPÖ-EU-Abgeordnete Günther Sidl warf der bürgerlichen Fraktion Arbeitsverweigerung vor.

Vonseiten der EVP erneuerte am Dienstag freilich unter anderem ÖVP-EU-Abgeordneter Alexander Bernhuber die Kritik an dem Gesetz. „Der Vorschlag ist schlecht gemacht, nicht zu Ende gedacht und muss daher zurück an den Start“, hieß es in einer Aussendung.

Dem erteilte einer der zuständigen EU-Kommissare, Virginijus Sinkevicius, zu Wochenbeginn eine Absage: „Die Kommission wird keinen neuen Vorschlag machen. Dafür fehlt einfach die Zeit“, sagte der Umweltkommissar gegenüber „Politico“. Im Falle einer Ablehnung würde das wohl das Aus für den Gesetzesvorschlag bedeuten. Sollte sich das Plenum hingegen für das Gesetz aussprechen, würden die Trilog-Verhandlungen zwischen Parlament, Kommission und Mitgliedsstaaten starten.

Hoffen auf liberalen Kompromissvorschlag

Wie die Abstimmung am Mittwoch ausgehen würde, traute sich auch Sinkevicius nicht vorherzusagen: Es werde „sehr knapp“. Als ein – vielleicht auch das entscheidende – Zünglein an der Waage könnte sich die liberale Renew-Fraktion, der auch NEOS angehört, erweisen. Die Fraktion war bis zuletzt gespalten, will aber am Mittwoch einen Kompromissvorschlag einbringen. Mit der Abstimmung über die Position der EU-Staaten gebe man der EVP die Möglichkeit, „aus diesem Loch, das sie sich gegraben haben, wieder rauszukommen“, sagte NEOS-EU-Abgeordnete Claudia Gamon.

Abgeordnete bei einer Abstimmung
AP/Jean-Francois Badias
Der Ausgang der Abstimmung wird wohl bis zuletzt offen bleiben

Dem liberalen Änderungsvorschlag liegt der Text zugrunde, auf den sich die EU-Staaten im Juni geeinigt hatten. Die Umweltministerinnen und -minister hatten damals teils ähnliche Bedenken vorgebracht wie die EVP – diese aber in einen geänderten Gesetzestext einfließen lassen. Die Befürworterinnen und Befürworter hoffen, dass mit dem Änderungsantrag manche EVP-Abgeordneten doch noch gegen die Fraktionslinie ihre Zustimmung geben können.

Österreich hatte sich im Juni bei der Abstimmung im EU-Umweltministerrat der Stimme enthalten. Umweltministerin Leonore Gewessler (Grüne) begründete das mit der Haltung der Bundesländer, die in Österreich für Umweltschutz zuständig sind. Die neun Länder hatten sich im Vorfeld geschlossen gegen die Pläne der EU-Kommission gestellt.