Ukrainische Präsident Wolodomir Selenski
Reuters
Selenskyj an NATO

„Unsicherheit ist Schwäche“

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat es am Dienstag „absurd“ genannt, sollte die NATO seinem Land auf dem zweitägigen Gipfel in Litauen keinen klaren Zeitplan für einen Beitritt zur transatlantischen Militärallianz anbieten. „Unsicherheit ist Schwäche“, richtete Selenskyj der NATO zudem per Telegram aus. Auf dem Gipfel soll er unter anderen auf US-Präsident Joe Biden und den deutschen Kanzler Olaf Scholz treffen. Drohungen kamen indes aus Russland.

„Es ist beispiellos und absurd, wenn es keinen Zeitplan gibt, weder für die Einladung noch für die Mitgliedschaft der Ukraine“, so Selenskyj auf Telegram. „Und zugleich gibt es vage Formulierungen über Bedingungen, sogar für eine Einladung der Ukraine“, schrieb er auf Englisch weiter. Ein Zögern der NATO würde Russland nur dazu motivieren, „den Terror fortzusetzen“.

Gleichwohl traf Selenskyj am Nachmittag zum NATO-Gipfel in der litauischen Hauptstadt Vilnius ein. Er wird am Abend bei einer Veranstaltung in der Innenstadt erwartet. Dort soll er zusammen mit Litauens Präsident Gitanas Nauseda auf eine Bühne treten, und die ukrainische Flagge soll gehisst werden. Auch soll Selenskyj am ersten Gipfeltag an einem Abendessen mit den NATO-Spitzen teilnehmen. Zuvor hatte er seine Teilnahme an dem Gipfel von festen Zusagen für den NATO-Beitritt seines Landes abhängig gemacht.

Langer Weg zur NATO

Nach dem Zerfall der Sowjetunion hatte sich die Ukraine ursprünglich als blockfreier Staat deklariert, doch mit der von Kiew unterstützten Erweiterung der NATO in Osteuropa entwickelte sich auch dort der Wunsch nach einem Beitritt. Auf dem Gipfel der Militärallianz 2008 in Bukarest hatten sich Deutschland und Frankreich zwar gegen eine Mitgliedschaft der Ukraine ausgesprochen. Dennoch wurde dem Land eine Beitrittsperspektive gewährt.

NATO-Gipfel: ORF-Analysen aus Vilnius und Istanbul

ORF-Korrespondent Robert Zikmund berichtet aus Vilnius, wie die Zugeständnisse der NATO an die Ukraine aussehen könnten. Im Fall von Schwede hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan nun dem NATO-Beitritt zugestimmt. Über die Hintergründe berichtet ORF-Korrespondentin Katharina Wagner aus Istanbul.

Seit 2019 hat Kiew das Ziel des NATO-Beitritts in der Verfassung verankert. Russland hat den 2022 begonnenen Angriffskrieg gegen das Nachbarland auch immer wieder damit gerechtfertigt, den NATO-Beitritt der Ukraine zur eigenen Sicherheit verhindern zu müssen.

Moskau droht

Russland bleibt bei seiner scharfen Ablehnung eines Beitritts. Ein beschleunigter Beitritt der Ukraine zur NATO birgt nach Darstellung des Kreml hohe Sicherheitsrisiken für Europa. „Potenziell ist das sehr gefährlich für die europäische Sicherheit“, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Dienstag der Nachrichtenagentur Interfax zufolge.

Biden lobte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg für dessen Führung. In diesem kritischen Moment für die Ukraine und die gesamte NATO sei es wichtig, dass Stoltenberg die NATO auch weiterhin anführe, sagte Biden am Dienstag vor einem Treffen mit dem Generalsekretär in Vilnius.

„Man vertraut Ihnen. Niemand kennt die Situation, mit der wir konfrontiert sind, besser als Sie“, sagte er an Stoltenberg gerichtet. Die Aufnahme von Schweden und Finnland in die NATO sei von großer Bedeutung, und Stoltenbergs Führung sei auch in dieser Frage wirklich wichtig. Für die Frustration der Ukraine äußerte der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrats der Regierung, John Kirby, Verständnis.

Stoltenberg verspricht Kiew „klare Botschaft“

„Wir werden eine klare Botschaft, eine positive Botschaft zum weiteren Vorgehen geben“, sagte Stoltenberg zuvor in Richtung Kiew. Seinen Angaben zufolge wird auf dem Gipfel ein mehrjähriges Programm vereinbart werden, um künftig eine reibungslose Zusammenarbeit zwischen den Streitkräften der Ukraine und des Bündnisses zu ermöglichen.

Zudem ist geplant, die politischen Beziehungen über die Schaffung eines neuen NATO-Ukraine-Rates zu vertiefen und der Ukraine zu versprechen, vor der angestrebten Aufnahme nicht auf dem üblichen Heranführungsprogramm zu bestehen. „Das wird den Beitrittsprozess für die Ukraine von einem zweistufigen Prozess zu einem einstufigen machen“, sagte Stoltenberg.

Auf die Frage, ob der Gipfel dem von Russland angegriffenen Land für die Zeit nach dem Krieg Sicherheitsgarantien geben werde, sagte Stoltenberg, er erwarte klare Entscheidungen für eine Fortsetzung und Verstärkung der Ukraine-Hilfe. „Und ich bin auch zuversichtlich, dass die Verbündeten zur Frage einer Mitgliedschaft bekräftigen werden, dass die Ukraine ein Mitglied werden wird.“

NATO berät zu Ukraine

Schon im Vorfeld des NATO-Gipfels wurde bekannt, dass Schweden dem Militärbündnis beitreten wird. Auch die Ukraine will der NATO beitreten. Auf dem Gipfel werden Beitrittsperspektiven und andere Arten von Unterstützung thematisiert.

Weitere Waffen und Munition aus Deutschland

Für die von Selenskyj geforderte Beitrittseinladung an die Ukraine gibt es bisher keinen Konsens im Militärbündnis. Die USA und Deutschland halten das für verfrüht, solange der Krieg anhält. Am Rande des Treffens wurde indes aus Regierungskreisen bekannt, dass Deutschland der Ukraine weitere Waffen und Munition im Wert von knapp 700 Millionen Euro liefern werde.

Spanien will die NATO-Ostflanke verstärken: Regierungschef Pedro Sanchez kündigte vor dem Gipfel die Entsendung weiterer Soldaten nach Rumänien und in die Slowakei an, wie die Zeitung „La Vanguardia“ und die Nachrichtenagentur Europa Press berichteten.

Frankreich will Marschflugkörper liefern

Frankreich will der Ukraine Marschflugkörper vom Typ SCALP-EG liefern. Das teilte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron mit – Details nannte er nicht. Im Mai bestätigte Großbritannien als erstes Land die Lieferung von Marschflugkörpern vom Typ Storm Shadow. Die luftgestützten Raketen wurden von Großbritannien und Frankreich gemeinsam entwickelt, in Frankreich heißen sie SCALP-EG.

Einem Insider zufolge soll Frankreich eine „beträchtliche Anzahl“ der Raketen liefern. Damit sei bereits begonnen worden, verlautete aus französischen Militärkreisen. Die Raketen sollten von Kampfflugzeugen transportiert werden, die nicht aus dem Westen stammten. Die Raketen könnten eine Reichweite von 250 Kilometern erlangen, würden aber nur innerhalb der international anerkannten Grenzen der Ukraine eingesetzt, sagte der Insider bei einer Presseunterrichtung in Litauen. Das habe die Ukraine schriftlich garantiert.

Ja zu Schweden-Beitritt

Am Vorabend hatte es Bewegung im festgefahrenen Streit über die NATO-Mitgliedschaft Schwedens gegeben. Mit dem Ende der türkischen Blockade dagegen sieht Stoltenberg das Bündnis nun insgesamt gestärkt. Die mit Präsident Recep Tayyip Erdogan am Vorabend getroffene Übereinkunft stärke die Verteidigung des Bündnisses deutlich und sei auch im Interesse der Türkei selbst, sagte Stoltenberg. Er sei „absolut überzeugt“, dass die Türkei das Beitrittsprotokoll für Schweden ratifizieren werde und das Hauptproblem gelöst sei, sagte er.

Angesichts der grundsätzlichen Zustimmung der Türkei will auch Ungarn das Beitrittsprotokoll für Schweden billigen. „Der Abschluss des Ratifizierungsprozesses ist eine rein technische Frage“, schrieb der ungarische Außenminister Peter Szijjarto auf seiner Facebook-Seite. Ungarn ist neben der Türkei das einzige NATO-Land, das den Beitritt Schwedens bisher noch nicht ratifiziert hat.

Putin bekommt „mehr NATO“

Stoltenberg wertete die Erweiterung des Verteidigungsbündnisses als Zeichen für ein Scheitern der Politik des russischen Präsidenten Wladimir Putin. „Er zog in den Krieg, weil er weniger NATO wollte. Er bekommt mehr NATO“, sagte er. Dass Finnland schon Mitglied sei und Schweden nun Mitglied werde, zeige, dass Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine ein „großer strategischer Fehler“ gewesen sei. Er habe sowohl die Ukrainer und die Geschlossenheit der NATO als auch die politischen Konsequenzen in Ländern wie Schweden und Finnland unterschätzt.

Stoltenberg: Putin „bekommt mehr NATO“

Mit Beratungen über die weitere Unterstützung der Ukraine und den Ausbau der Verteidigung gegen Russland hat ein zweitägiger NATO-Gipfel in Litauen begonnen. Die Ukraine sollte nach Auffassung von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg jetzt ein deutliches Signal für eine Aufnahme in die transatlantische Allianz erhalten. Der jüngste Beschluss über den Bündniseintritt Schwedens sei zudem auch ein klares Signal an Russlands Präsidenten Wladimir Putin. „Er ist in den Krieg gezogen, weil er weniger NATO wollte – er bekommt mehr NATO“, so Stoltenberg weiter vor Medienvertretern in Vilnius.

Der Gipfel mit dem deutschen Bundeskanzler Scholz, US-Präsident Biden und den anderen Staats- und Regierungschefs der 31 NATO-Staaten sollte am Nachmittag beginnen. Zudem wurden zu einem Abendessen und Gesprächen am Mittwoch auch zahlreiche Gäste zu dem Spitzentreffen in Vilnius erwartet.