Frau geht an Wahlplakaten vorbei
Reuters/Jon Nazca
Richtungsweisende Parlamentswahl

Spanien bereitet sich auf Rechtsruck vor

Knapp vor der Parlamentswahl in Spanien am 23. Juli behauptet die konservative Opposition in Umfragen ihren Vorsprung vor den Sozialdemokraten. Behalten die Umfragen recht, ist die Volkspartei Partido Popular (PP) für eine Mehrheit jedoch auf die rechtspopulistische Vox angewiesen. Eine solche Koalition wäre eine Zäsur – bereits mehrmals hat sich die Vox gegen unter den Sozialdemokraten verabschiedete Gesetze für Frauen und Transsexuelle ausgesprochen. Auch in der EU ist die Sorge vor einem möglichen Rechtsruck des bisher progressiven Staates groß.

Je nördlicher ein europäisches Land liegt und je protestantischer es ist, umso liberaler ist auch seine Gesellschaft eingestellt – so lautet eigentlich die sozialwissenschaftliche These. Das südlich gelegene und mehrheitlich katholische Spanien galt bisher als Ausnahme, die die Regel bestätigt – in den letzten Jahren hat es sich zu einem der gesellschaftspolitisch progressivsten Staaten Europas entwickelt.

So sprach sich Ministerpräsident Pedro Sanchez mit seiner sozialdemokratischen Partei Partido Socialista Obrero Espanol (PSOE) für ein „feministisches Spanien“ und „echte Gleichheit“ aus und führte als europaweit erstes Land einen bezahlten Menstruationsurlaub für Frauen ein. Geschlechtsspezifische Gewalt galt in den letzten Jahren als strukturelles Problem, das es zu bekämpfen gilt, spezielle Gerichte verhandeln nur Gewaltdelikte gegen Frauen.

2004 wurde unter der PSOE ein Gesetz verabschiedet, das Frauen vor Übergriffen durch ihre Partner schützen soll. 2007 wurde das Programm „VioGen“ entwickelt, mit dem staatlichen Stellen Informationen zu Gewalt gegen Frauen zusammentragen können. Ab 16 Jahren ist es zudem für transsexuelle Menschen möglich, ihren Geschlechtseintrag niederschwellig ändern zu lassen. Bereits 2005 wurde die gleichgeschlechtliche Ehe eingeführt.

Ministerpräsident von Spanien, Pedro Sánchez
AP/Europa Press/Kike Rincon
Sanchez regiert Spanien seit Juni 2018, seit Jänner 2020 zusammen mit der Podemos-Partei in einer Minderheitsregierung

Progressiver Kurs auf der Kippe

Der progressive Kurs, der die spanische Gesellschaftspolitik in den vergangenen Jahrzehnten seit dem Ende der Franco-Diktatur geprägt hat, dürfte nun aber auf der Kippe stehen. Behalten die Umfrageinstitute recht, dürften die Konservativen die Wahl am 23. Juli gewinnen, wären für eine Mehrheit aber auf die rechtspopulistische und europaskeptische Partei Vox angewiesen.

Laut einer Umfrage des Instituts GAD3 für die konservative Zeitung „ABC“ liegt die sozialdemokratische PSOE mit 28,5 Prozent hinter der konservativen PP, die das Ranking mit 37,2 Prozent anführt. Auf die Vox entfällt laut GAD3 eine Zustimmung von 11,7 Prozent. Weil das politische Lagerdenken in Spanien stark ausgeprägt sei, liege es für einige in der konservativen PP nahe, wenn nötig, ein Bündnis mit Vox einzugehen, schrieb etwa die Onlineplattform Merkur.

Aufhebung diverser Gesetze gefordert

Die 2013 von enttäuschten Konservativen gegründete Partei habe vor allem „Rechte, Rassisten, strenggläubige Katholiken, Franquisten und Protestwähler“ angesprochen, schrieb der deutsche „Spiegel“. In ihrem Programm fordert die Vox eine zentralistische Verfassung, lehnt die Autonomierechte der Katalanen ab, hetzt gegen Einwanderer und Transsexuelle und sieht sich als Vertreter des Antifeminismus.

Der Vorsitzende der „Vox“, Santiago Abascal
APA/AFP/Thomas Coex
Das ehemalige PP-Mitglied Santiago Abascal Conde ist seit 2014 Chef der rechtspopulistischen Vox

Sie fordert die Aufhebung diverser Gesetze zu Gewalt gegen Frauen, auch Abtreibungen und der gleichgeschlechtlichen Ehe steht sie kritisch gegenüber. Die PP setze darauf, die Vox in der Regierung „einhegen“ zu können, so der „Spiegel“. Sollte aber der Vox-Vorsitzende Santiago Abascal Conde den Posten des Innenministers verlangen, stünden progressive Gesetze auf dem Spiel. Auch der Konflikt mit den katalanischen Separatisten dürfte unter einer Regierungsbeteiligung der Vox eskalieren.

PP hat Spanien „wie Tsunami überrollt“

Ursprünglich war die Parlamentswahl in Spanien erst für Dezember anberaumt gewesen. Die Sozialdemokraten und deren Regierungspartner Podemos hatten bei den regionalen und kommunalen Wahlen Ende Mai jedoch herbe Verluste eingefahren, woraufhin Ministerpräsident Sanchez in einem von Medien als riskant bezeichneten Schritt eine Neuwahl für den 23. Juli ausrief.

Die PP habe Spanien „wie ein Tsunami überrollt“, titelte die renommierte Zeitung „El Mundo“. In sieben der acht größten Städte hatten die Konservativen gewonnen – das hatte es seit der Gründung von PP und PSOE nach dem Ende der Franco-Diktatur im Jahr 1975 noch nie gegeben. Auch die Vox ging als Wahlsieger aus den Kommunalwahlen Ende Mai hervor. Sie verdoppelte ihre Stimmenzahl auf landesweit knapp 7,2 Prozent und konnte ihre Sitzzahl in mehreren Regionalparlamenten signifikant erhöhen.

Auf regionaler Ebene koalieren PP und Vox seit Mitte Juni in Valencia, laut „Frankfurter Allgemeiner Zeitung“ („FAZ“) laufen in Murcia und Extremadura Verhandlungen zwischen den Parteien. Seit 2021 reagiert die PP zudem mit der Vox in nordwestlich gelegenen Kastilien-Leon. Dennoch nannte der „Spiegel“ eine mögliche Koalition auf nationaler Ebene eine „Zäsur“.

Alberto Nunez Feijoo von der „Popular Party“
IMAGO/NurPhoto/Joaquin Gomez Sastre
Der Chef der PP versprach nach dem Erfolg bei den Regionalwahlen eine „neue politische Ära“

Sorge vor Rechtsruck in Brüssel

Auch in Brüssel wird der mögliche Rechtsruck in Spanien mit Sorge gesehen. Die Vox gilt mit der rechtspopulistischen Szene in Europa als bestens vernetzt, sie steht etwa mit Ungarns Premier Viktor Orban und Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni in Kontakt. Wie Ungarn und Polen hat die Vox ein EU-rechtswidriges Verständnis von Rechtsstaatlichkeit, zudem hat sie sich offen gegen die von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vorangetriebenen Klimaschutzprojekte ausgesprochen.

Eine andere Befürchtung in der EU-Kommission ist, dass die erwartete schwierige Regierungsbildung in Madrid laufende EU-Gesetzgebungsvorhaben verzögern könnte, etwa die Reform des europäischen Asylsystems. Sollte Spanien aus dem Lager der Befürworter der Reform ins Lager der Gegner wechseln, könnte das das Aus für die Pläne bedeuten.

Das Land hat zudem derzeit den halbjährig wechselnden EU-Ratsvorsitz inne. Sollte die PP zusammen mit der europaskeptischen Vox die nächste spanische Regierung stellen, könnte sich das auch auf die Ratspräsidentschaft auswirken. Als EU-Vorsitzland kommt Spanien im zweiten Halbjahr 2023 eine wichtige Vermittlerrolle bei Meinungsverschiedenheiten unter den EU-Staaten zu. Die Frage der Finanzierung weiterer Hilfen für die Ukraine ist dabei eines der Themen.

Modernisierungsschub nach Franco-Regime

Spanien gehört zu den jüngsten Demokratien Europas, erst 1975 endete das Regime unter Diktator Francisco Franco. Nach seinem Tod habe Spanien so schnell wie möglich zum Rest Westeuropas aufholen wollen, womit sich der beispiellose Modernisierungsschub und progressive Kurs in Politik und Gesellschaft erklären lasse, so der „Spiegel“.

Von den Werten, die Vox vertrete, würden sich den Umfragen zufolge die wenigsten vertreten fühlen, die spanische Gesellschaft sei liberal und wehrhaft eingestellt. Bereits 2012 kam es zu Massenprotesten, als die PP an die Macht kam und die Abtreibungsgesetze verschärfen wollte. Der konservative Ministerpräsident Mariano Rajoy geriet so stark unter Druck, dass er bei seinem Wahlversprechen, Abtreibungen zu verbieten, gezwungen war, wieder zurückrudern.