Hilfsorganisationen werfen der Polizei vor, vor allem auf Pushbacks zu setzen, nachdem es Migrantinnen und Migranten über den Zaun aus der Türkei nach Bulgarien geschafft haben. 88.000 Personen seien im Vorjahr betroffen gewesen. Hamid Khoshseiar von der NGO Mission Wings in der Stadt Charmanli erklärt gegenüber dem ORF, teils würden den Betroffenen nicht nur Kleidung, Geld und Handys abgenommen – manchmal kämen Gewalt und Schläge dazu.
Mission-Wings-Gründerin Diana Dimowa berichtet andererseits von brutaler Schleppergewalt. Sie zeigt ein Video von bulgarischen Schleppern, die auf Asylsuchende einschlagen. „Money“ rufen die Schlepper. Mit solchen Videos wollen sie Verwandte der Flüchtlinge und Migranten unter Druck setzen, Geld zu schicken, erklärt Dimowa.
Den bulgarischen Behörden wirft sie anhand konkreter Beispiele auch vor, Asylansuchen zu ignorieren. Deshalb hätten sich in den vergangenen Monaten 600 Asylsuchende vor der Asylantragsstellung an Mission Wings gewandt, damit ihre Namen dort notiert werden, um Pushbacks zu erschweren.
Grenzpolizeichef weist Vorwürfe zurück
Der Direktor der bulgarischen Grenzpolizei Anton Slatanow weist im ORF-Interview die Vorwürfe zurück und erklärt, dass man die Polizisten trainiere, die Menschenrechte einzuhalten. „Grundsätzlich ist unsere Priorität, mit genug Personal und Ausrüstung zu verhindern, dass Migranten über den mit Kameras und Sensoren ausgerüsteten Grenzzaun kommen. Wenn sie es schaffen, greifen wir sie auf.“ Dann beginne eine, laut Slatanow, „völlig legale, menschenrechtskonforme“ Prozedur. In Bulgarien heißt das zunächst rund zwei Wochen Haft – vor allem zur Feststellung und Prüfung der Identität der Flüchtlinge und Migranten.
Am Grenzübergang Kapitan Andreewo an der EU-Außengrenze zur Türkei zeigen uns Polizisten, wie sie jeden Lkw mit CO2-Sonden und Herzschlagdetektoren untersuchen, damit niemand illegal einreist. Um derartige Kontrollen zu umgehen. setzen Schlepper häufiger auch auf schwere Tanklaster. Einer davon wurde laut Behörden vergangene Woche im Landesinneren gestoppt, mit 40 Erwachsenen und Kindern im Tank versteckt.
Auf der bulgarischen Seite ist die grüne Grenze durch einen drei Meter hohen, doppelten Grenzzaun geschützt, ausgerüstet mit Kameras und Thermosensoren. An manchen Stellen sind verriegelte Tore im Zaun zu sehen. Ein Patrouillenkommandant erklärt, dass diese verwendet würden, „um Bäume und Büsche auf der anderen Seite zurückzuschneiden, damit der Zaun nicht zuwächst“. Dass hier Pushbacks durchgeführt würden, dementiert auch er.
Bulgarisch-türkische Zusammenarbeit
Beim ORF-Lokalaugenschein wird auch die Zusammenarbeit der türkischen und bulgarischen Grenzbeamten deutlich: Freundlich winken und hupen türkische Soldaten den Bulgaren zu. Diese bestätigen: „Wenn wir Migranten auf der türkischen Seite sehen, informieren wir die türkischen Kollegen.“ Diese würden dann eine Patrouille schicken.
Bulgarische Exekutive gegen Schlepper
Die Polizei in Bulgarien geht in einer großen Aktion seit Ende letzter Woche landesweit gegen Schlepper vor. In der Hauptstadt Sofia und in weiteren Städten wurden Durchsuchungen an Dutzenden Adressen veranlasst.
Pushback-Betroffene berichten
Fünf afghanische Migranten, auf die das ORF-Team beim Lokalaugenschein auf der türkischen Seite der Grenze getroffen ist, berichten, dass sie bereits sieben Tage lang in Bulgarien gewesen seien, zuletzt nur mehr acht Kilometer von Serbien entfernt. Die Polizei habe sie über die bulgarische Hauptstadt Sofia zurückgebracht und über die Grenze in die Türkei geschickt. „Sie haben uns nicht verletzt, aber sie haben uns unsere Handys abgenommen und unser Geld, unsere Taschen und haben uns nur mit diesen Kleidern am Leib deportiert“, so einer der Männer.
Ein Landwirt und Lokaljournalist im grenznahen türkischen Dorf Cagalayik bestätigt dem ORF, dass Migrantinnen und Migranten, die zur Grenze wollen, oft gut ausgerüstet seien. Jene, die aus Bulgarien zurückkämen, hätten hingegen manchmal gar keine Kleidung mehr an. Er berichtet auch von Vergewaltigungen und Todesfällen. „Das Schlimmste, das ich gesehen habe, ist der Tod von Migranten“, so der Anrainer.
Wenige stellen Asylantrag
Nur selten wenden sich Migrantinnen und Migranten, die es bis an den Zaun schaffen, an die bulgarischen Beamten, berichten diese. Sie würden dann zum Grenzübergang verwiesen, wo es möglich sei, einen Asylantrag zu stellen. Doch die meisten würden nicht in Bulgarien, dem ärmsten Land Europas, bleiben wollen und würden deshalb Polizeikontakt und Asylantrag vermeiden, um nach Nord- und Westeuropa zu gelangen – trotz des riskanten Weges.
Bulgarien will bis 2024 zusammen mit dem Nachbarland Rumänien in den Schengen-Raum ohne Grenzkontrollen aufgenommen werden. Österreich blockierte im Dezember 2022 den Schengen-Beitritt der Länder, die Niederlande widersetzten sich der Schengen-Aufnahme Bulgariens.