Verladung von Getreide in einem ukrainischen Hafen
AP/Andrew Kravchenko
Aus für Abkommen

Ukraine will Getreide weiter verschiffen

Kiew will trotz fehlender Sicherheitsgarantien weiter den Getreidekorridor betreiben. „Sogar ohne Russland muss man alles tun, damit wir diesen Schwarzmeer-Korridor nutzen können“, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj. Die Reeder sollen bereit sein, ukrainische Häfen anzulaufen. Zuvor hatte Russland angekündigt, das auslaufende Getreideabkommen nicht zu verlängern. Nun wird ein Steigen der Preise befürchtet mit schweren Folgen vor allem für ärmere Länder.

Russland hatte am Dienstag wenige Stunden vor Ablauf des Abkommens um 23.00 Uhr angekündigt, dass es keine Verlängerung geben werde. Die früher ausgehandelten Bedingungen Russlands zur Lockerung der westlichen Wirtschaftssanktionen seien nicht erfüllt worden, Präsident Wladimir Putin habe diese Forderungen deutlich formuliert. So will Moskau unter anderem, dass die staatliche Landwirtschaftsbank in das internationale SWIFT-Zahlungssystem reintergriert wird, um den Export eigenen Getreides und Düngers in gewünschtem Umfang abzuwickeln. Probleme gebe es auch bei der Versicherung der Frachten.

Der Westen habe für eine Lösung ein Jahr Zeit gehabt, so Moskau. Stattdessen hätten die Ukraine, der Westen und die Vereinten Nationen „entgegen den Erklärungen zu den humanitären Zielen“ die Ausfuhr ukrainischer Lebensmittel „auf rein kommerzielle Basis gestellt“, um „selbstsüchtige Interessen Kiews und des Westens“ zu erfüllen, hieß es in der Presseerklärung des russischen Außenministeriums.

Seit Unterzeichnung des Abkommens im Juli 2022 konnte die Ukraine durch den Deal 33 Millionen Tonnen verschiffen. Das war nicht nur lebenswichtig für viele ärmere Länder, sondern auch für die Kriegskasse Kiews. Erlöse von umgerechnet über acht Milliarden Euro wurden im vergangenen Jahr erzielt. Nun will die Ukraine auch ohne russische Sicherheitsgarantien den Getreidekorridor weiter nutzen. Laut Selenskyj seien die Schiffseigner dazu bereit, wie er am Montag ausrichten ließ.

Das Abkommen könne auch ohne Russland weiterlaufen, so Selenskyj auch in einem Brief an den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und UNO-Generalsekretär Antonio Guterres. Die Welt habe eine Gelegenheit zu zeigen, dass keine Erpressung geduldet werde bei der Frage, wer genug Essen auf dem Tisch habe. Benötigt werde Schutz vor dem „Wahnsinn Russlands“. Moskau habe die stabile Lebensmittelversorgung zerstört, doch die Staaten in Asien, in Afrika und Europa hätten ein Recht auf Stabilität. „Die Schwarzmeer-Getreideinitiative kann und sollte weitergehen – wenn ohne Russland, dann ohne Russland.“ Das Abkommen bleibe in Kraft, es müsse nur umgesetzt werden.

ORF-Analyse zum Getreideexport aus Ukraine

ORF-Korrespondent Christian Wehrschütz analysiert, welche Folgen das Aus des Getreideabkommens hätte und wie realistisch es ist, dass die Ukraine das Abkommen ohne Russland weiterführt.

Dass der Ausstieg Russlands aus dem Deal mit der Explosion auf der Krim-Brücke zusammenhänge, verneinte man im Kreml. In der Nacht auf Montag wurde die Brücke wegen eines „Notfalls“ gesperrt. Ein Mann und eine Frau seien in der Nacht auf der Krim-Brücke getötet, ihre Tochter verletzt worden, so die russischen Behörden. Moskau macht die Ukraine dafür verantwortlich. Laut Putin sei der Anschlag das Werk von „Terroristen“, er kündigte Vergeltung für den Angriff an. Doch verknüpft würden der Brückenanschlag und das Getreideabkommen nicht. Es handle sich um „zwei nicht miteinander verbundene Ereignisse“, wie Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sagte.

Folgen vor allem für ärmere Länder

Guterres zeigte sich zutiefst enttäuscht über den russischen Ausstieg. Das Abkommen sei eine „Rettungsleine für die globale Ernährungssicherheit und ein Leuchtturm der Hoffnung in einer aufgewühlten Welt“ gewesen, sagte Guterres am Montag in New York. „Man hat die Wahl, an solchen Abkommen teilzunehmen. Aber leidende Menschen überall und Entwicklungsländer haben keine Wahl. Hunderte Millionen Menschen sind vom Hunger bedroht und Konsumenten von einer globalen Krise der Lebenshaltungskosten.“

Guterres hatte Putin in der vergangenen Woche noch einen Brief mit Vorschlägen geschrieben, um das Abkommen zu retten. „Ich bin zutiefst enttäuscht, dass meine Vorschläge unbeachtet blieben“, sagte er.

Grafik zu Getreideexporten aus ukrainischen Häfen
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: NYT/ISW

Die globalen Getreidepreise dürften stark steigen, wenn die ukrainischen Getreideexporte nicht mehr auf den Weltmarkt kommen. Viele Länder, besonders in Afrika, sind für die Versorgung ihrer Bevölkerung auf Weizen aus der Ukraine angewiesen. Die deutsche Botschafterin bei der Weltgesundheitsorganisation, Katharina Stasch, nannte den Export „eine Frage von Leben und Tod“.

Die Preise für Getreide sind auch bereits gestiegen, nachdem bekanntwurde, dass Russland das Abkommen nicht verlängern wird. Die Lage ist derzeit jedoch besser als in den Monaten nach Kriegsbeginn, da das Getreideangebot von anderen Erzeugern wie etwa Brasilien gestiegen ist.

Hoffnung auf längerfristige Lösung

Viele Stimmen verurteilten daher Russlands Entscheidung. US-Außenminister Antony Blinken warnte, wenn Moskau nicht in eine Verlängerung des Getreideabkommens einwillige, dann würden die Entwicklungsländer in Form „höherer Lebensmittelpreise wie auch größerer Nahrungsmittelknappheit“ darunter zu leiden haben. „Wir fordern Russland mit Nachdruck dazu auf, seine Entscheidung unverzüglich zu revidieren“, schrieb ein Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates, Adam Hodge, auf dem Kurznachrichtendienst Twitter.

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sprach davon, dass Hunger als Waffe eingesetzt werden sollte. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach von einem „zynischen Schritt“.

Auch Österreich verurteilte die Entscheidung, sie bedeute, dass Millionen von Tonnen von lebenswichtigem Getreide und Nahrungsmitteln für Entwicklungsländer blockiert werden. Russland missbrauche damit „zynisch“ Nahrung als Waffe, hieß es in einer Mitteilung des Außenministeriums vom Montag. Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) rief Russland am späten Montagabend (Ortszeit) im UNO-Sicherheitsrat in New York auf, eine Verlängerung nicht zu blockieren. Die Auswirkungen auf Lebensmittel- und Energiepreise weltweit seien eine direkte Folge der russischen Aggression.

Getreideernte in der Ukraine
Reuters
Vor allem der Export von Mais und Weizen ist lebenswichtig für viele Länder

Unter Vermittlung der Türkei

Erstmalig war das Getreideabkommen nach monatelanger Blockade der ukrainischen Getreideausfuhren im Juli des Vorjahres unter Vermittlung der Vereinten Nationen und der Türkei geschlossen worden. Die UNO und allen voran Erdogan hatten sich auch in den vergangenen Wochen intensiv darum bemüht, Putin von einer Verlängerung zu überzeugen. Erdogan geht auch weiterhin von einer Verlängerung des Abkommens aus.

„Ich glaube, dass der russische Präsident Putin trotz der heutigen Mitteilung für eine Fortsetzung dieser humanitären Brücke ist“, sagte Erdogan am Montag vor Journalisten. Er kündigte Gespräche mit Putin an. Eine Verlängerung des Abkommens könne noch vor dem für August geplanten Besuch des russischen Präsidenten in der Türkei möglich sein, sagte Erdogan weiter. Verhandlungen diesbezüglich seien bereits im Gange.

Viele Risiken bei Alleingang

Laut dem Abkommen prüfen russische, ukrainische und türkische und UNO-Inspektoren, dass an Bord der Frachter, die Getreide abholen, keine Waffen in die Ukraine gelangen. Ohne russische Inspekteure können die Schiffe im Koordinierungszentrum in Istanbul nicht mehr abgefertigt werden. Russland könnte auch die drei ukrainischen Häfen wie zu Anfang des Krieges blockieren.

Ausländische Frachter könnten die Häfen, die ja unter ukrainischer Kontrolle sind, theoretisch auch ohne Russlands Zustimmung anfahren, so wie es Selenskyj andeutete. Sie gingen dann aber das Risiko ein, von russischer Seite beschossen zu werden. Unklar ist auch, wie Schiffe und Fracht versichert werden sollen. Die Versicherungspolicen für Kriegsrisiken müssen alle sieben Tage erneuert werden, was Tausende von Dollar kostet.

Komplizierter Landweg

Seit Beginn des Konflikts exportiert die Ukraine auch große Mengen Getreide über die östlichen EU-Länder. Dabei gab es jedoch viele logistische Herausforderungen, darunter unterschiedliche Spurweiten von Schienen.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass der Getreidestrom aus der Ukraine durch die östlichen EU-Länder zu Unruhe bei den Landwirten in der Region geführt hat, die erklärten, dass das ukrainische Getreide das lokale Angebot unterbiete, sodass sie keinen Markt für ihre Ernte hätten. Infolgedessen hat die EU fünf Ländern – Bulgarien, Ungarn, Polen, Rumänien und der Slowakei – erlaubt, den Inlandsverkauf von ukrainischem Weizen, Mais, Raps und Sonnenblumenkernen zu verbieten, während sie die Durchfuhr für den Export in andere Länder erlaubt.