Bagger in einem Getreidehafen
AP/Andrew Kravchenko
Aus für Getreidedeal

Verschärfung von Hungerkrisen befürchtet

Für das UNO-Welternährungsprogramm (WFP) ist der Ausstieg Russlands aus dem Getreideabkommen mit der Ukraine „nicht nachvollziehbar“. Schon jetzt seien 345 Millionen Menschen von Hunger bedroht, die Lage könnte sich nun verschlimmern. Die Ukraine will trotz allem weiterhin Getreide exportieren, doch Russland hob seine Sicherheitsgarantien offiziell auf. Aus dem Kreml kam die Warnung, Exporte ohne russische Einbindung seien „riskant“.

Ob und wie die Lieferungen von Getreide aus der Ukraine weitergehen können, ist noch unklar. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte am Montag nach Auslaufen des bisherigen Abkommens, dass die in Teilen der Welt dringend benötigten Exporte auch ohne Sicherheitsgarantien des Kreml verschifft werden könnten, es hätten sich auch die Reeder dazu bereiterklärt. Doch einen Tag nach Ende des Deals herrscht Unsicherheit.

Das WFP befürchtet eine Zunahme des Hungers in der Welt. „Wir erwarten, dass Hungerzahlen weiter ansteigen und dass mehr Menschen es sich nicht mehr leisten können, elementare Lebensmittel zu kaufen“, sagte Martin Flick, der Berliner Büroleiter des WFP, am Dienstag im Deutschlandfunk.

Selbst während des Krieges blieb die Ukraine im Jahr 2022 der größte Weizenlieferant des WFP und lieferte mehr als die Hälfte der weltweiten Weizenmenge des Programms. Rund 60 Prozent der ukrainischen Getreideexporte sind nach EU-Angaben seit Beginn des Krieges über die „Solidaritätsrouten“ abgewickelt worden und die restlichen rund 40 Prozent über das Schwarze Meer.

Genug Lebensmittel, aber zu teuer

Schon jetzt sind nach UNO-Angaben 345 Millionen Menschen von Lebensmittelunsicherheit betroffen. Das Problem sei „nicht, dass wir nicht genügend Lebensmittel in der Welt haben, sondern die Preise“, die auf einem Zehnjahreshoch liegen, sagte Flick weiter.

Getreideabkommen

Das im Juli 2022 geschlossene Abkommen ist zweimal verlängert worden und am Montag abgelaufen. Es ermöglichte der Ukraine, auch nach dem russischen Angriff auf das Land über das Schwarze Meer Getreide zu exportieren. Die Ukraine spielt eine große Rolle bei der weltweiten Versorgung mit Nahrungsmitteln.

Am stärksten seien nach sechs ausgebliebenen Regenzeiten das Horn von Afrika, Afghanistan und der Jemen betroffen, insgesamt seien aber Menschen in 70 Ländern extrem gefährdet, sagte Flick weiter. Die „Schockwellen einer solchen Unterbrechung“ seien „bis nach Lateinamerika“ zu spüren.

Die Begründung des Kreml für den Ausstieg hält Flick für nicht nachvollziehbar. „Gerade die Exporte russischer Düngemittel sind wieder fast auf Vorkriegsniveau – und die Angaben kommen von den Erzeugern dieser Düngemittel selbst.“ Er hoffe, dass Russland noch einlenken werde, sagte Flick.

Moskau war ausgestiegen, weil es seine Forderungen nicht erfüllt sah. Der Kreml will Lockerungen der westlichen Sanktionen, um mehr Düngemittel und eigene Agrarprodukte ausführen zu können. Das betrifft etwa die staatliche Agrarbank, die derzeit vom internationalen Zahlungssystem SWIFT ausgeschlossen ist.

Kreml richtet Vorwürfe an Kiew

Wenn die Ukraine ohne russische Garantien weiter auf dem Seeweg exportieren wolle, sei das „riskant“, sagte am Dienstag Kreml-Sprecher Dmitri Peskow der Agentur Interfax zufolge. „Es handelt sich um eine Zone, die unmittelbar an das Kampfgebiet grenzt und in der ohne entsprechende Sicherheitsgarantien gewisse Risiken entstehen.“ Wenn in der Zukunft eine Vereinbarung „ohne Russland formalisiert“ werde, „dann sollten diese Risiken berücksichtigt werden“.

Grafik zu Getreideexporten aus ukrainischen Häfen
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: NYT/ISW

Es sei „kein Geheimnis mehr für irgendwen“ und „eine offensichtliche Tatsache“, dass die Ukraine den Seekorridor für den Getreideexport „für militärische Zwecke“ nutze, so Peskow weiter. Zudem wies er die internationale Kritik an Russlands Rückzug aus dem Deal zurück. Russland erfülle seine Verpflichtungen und werde auch weiterhin Getreide an arme Länder liefern. Dazu sei Russland auch bereits mit afrikanischen Ländern in Kontakt.

„Temporär gefährliche Zone“

Am Montag hatte es noch geheißen, Russland könne das Abkommen jederzeit wiederbeleben, sobald die Forderungen des Kreml erfüllt seien. Am Dienstag aber wurde das russische Koordinierungszentrum für das Getreideabkommen offiziell aufgelöst und die Sicherheitsgarantien für ukrainische Getreideexporte aufgehoben. Das bedeute, dass es im Nordwesten des Schwarzen Meeres wieder „eine temporär gefährliche Zone“, hieß es laut dem russischen Außenministerium.

Die internationalen Bemühungen zu einer Rückkehr des Abkommens laufen indes bereits auf Hochtouren. Vor allem der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, der voriges Jahr maßgeblich am Zustandekommen des Deals beteiligt war, hoffte darauf, Kreml-Chef Wladimir Putin umstimmen zu können.

Angriffe auf Hafenstädte

In der Nacht auf Dienstag führte Russland wieder Angriffe auf Hafenstädte im Süden und Osten der Ukraine aus. Odessa und Mykolajiw sowie die Regionen Donezk, Cherson, Saporischschja und Dnipro waren Drohnenangriffen ausgesetzt, teilten die ukrainischen Luftstreitkräfte auf Telegram mit. Odessa und Mykolajiw bieten der Ukraine Zugang zum Schwarzen Meer für die Ausfuhr von Getreide.

ORF-Korrespondenten zum Getreideabkommen

Die beiden ORF-Korrespondenten Miriam Beller und Robert Zikmund melden sich aus Moskau und Brüssel. Sie sprechen über das Getreideabkommen zwischen Russland und der Ukraine, das am Montag ausgelaufen ist.

Bei dem Angriff auf den Hafen von Odessa habe es sich nach Angaben aus Moskau um einen „Vergeltungsschlag“ gehandelt. Putin hatte Vergeltung nach einem Angriff auf die Krim-Brücke zwischen dem russischen Festland und der Schwarzmeer-Halbinsel angekündigt. Dabei waren zwei Menschen umgekommen.

In mehreren ukrainischen Regionen ertönte in der Nacht stundenlang Luftalarm. Die Luftabwehr habe sechs russische Marschflugkörper vom Typ Kalibr und 25 Schahed-Drohnen iranischer Bauart abgeschossen, erklärte das Südkommando der ukrainischen Streitkräfte. Allerdings seien in Odessa „Einrichtungen der Hafeninfrastruktur“ und „mehrere Wohnhäuser“ von Raketentrümmern und der beim Abschuss entstandenen Druckwelle beschädigt worden. Russland wehrte indes nach eigenen Angaben einen ukrainischen Drohnenangriff auf die annektierte Halbinsel ab.