Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in Brüssel
Reuters/Francois Lenoir
Annäherung

Eis zwischen Brüssel und Ankara schmilzt

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan versucht nach seiner Wiederwahl die Beziehungen zur Europäischen Union wieder zu kitten. Vor allem die Abwärtsspirale der türkischen Wirtschaft soll so gebremst werden. Angesichts der geopolitischen Rolle der Türkei und des russischen Angriffskrieges steht Erdogan in Brüssel auch wieder so manche Tür offen.

Groß war das Rätselraten nach dem NATO-Gipfel in Vilnius vor zwei Wochen: Erdogan hatte zuvor den Beitritt Schwedens zum Militärbündnis monatelang blockiert und im Gegenzug für eine Zustimmung überraschend die Wiederaufnahme von EU-Beitrittsgesprächen mit der Türkei gefordert. Wenige Stunden später gab er die NATO-Blockade plötzlich auf.

Es gebe keine erkennbare Strategie, Erdogan handle erratisch, analysierte kürzlich der frühere deutsche Botschafter in der Türkei, Martin Erdmann, gegenüber der Tagesschau. „Es ist in der Tat schwer, sich einen Reim darauf zu machen. Selbst für jemanden wie mich, der sich seit vielen Jahren mit der türkischen Innen- und Außenpolitik beschäftigt. Meine Bewertung dessen, was wir vor allem in jüngerer Zeit erleben, lautet, dass die türkische Außenpolitik verwirrend ist“, so Erdmann. Erdogans Haltung zum Krieg in der Ukraine gleiche einer „Schaukelpolitik“, „oftmals nach Tagesverfassung oder Tagessituationen ausgerichtet“.

Gespaltenes Verhältnis

Wiederholt nutzte Erdogan in den vergangenen Jahren die EU auch als Reibebaum. Die Türkei brauche die Europäische Union nicht mehr. Verwundern mag das nicht, liegen die 2005 aufgenommenen Beitrittsverhandlungen doch schon seit fünf Jahren auf Eis, während die Ukraine und Moldawien jüngst im Schnellverfahren den Kandidatenstatus erhielten.

Recep Tayyip Erdogan und Ursula von der Leyen
IMAGO/Turkish presidency
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und Erdogan: Die diplomatischen Beziehungen sollen wieder besser werden

Nun wird aber wieder eine Kehrtwende vollzogen: Seit dem NATO-Gipfel bemüht sich Ankara erneut um bessere Beziehungen zu Brüssel. Ein erstes Anzeichen dafür war ein Treffen des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell mit dem türkischen Außenminister Hakan Fidan vorige Woche in Jakarta. Am Donnerstag ging es weiter auf dem Treffen der EU-Außenministerinnen und -minister, bei dem neben dem Krieg in der Ukraine auch das Verhältnis zur Türkei ein großes Thema war.

Visa, Zoll und Geflüchtete

Nach der Abkehr von der NATO-Blockade besteht laut Diplomatinnen und Diplomaten auch in Brüssel wieder eine höhere Bereitschaft, die Wogen zu glätten und der Türkei manche Forderung zu erfüllen. Laut Politico stehen derzeit etwa die Aktualisierung der Zollunion zur Debatte, ebenso wie erleichterte Visa und die Erneuerung des Migrationspakts.

Doch die EU wird auch einmal mehr darauf pochen, dass Schlüsselfragen wie Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei in die Verhandlungen einfließen. Im Herbst soll Borrell der Kommission einen Bericht vorlegen, wie vorgegangen werden kann.

Türkei sucht Entspannung mit Westen

Die Beziehungen zwischen dem Westen und der Türkei waren zuletzt spannungsgeladen. Beim NATO-Gipfel in Vilnius (Litauen) war der türkische Präsident Erdogan sichtlich um Entspannung bemüht.

Brüssel strebt „konstruktives“ Engagement an

Die EU solle sich „konstruktiv engagieren“, schlagen die Brüsseler Diplomaten intern vor, wie die „Financial Times“ („FT“) am Donnerstag schrieb. Die Türkei ist für die EU wichtig, als Stabilitätsanker in der Region und in der Migrationsfrage. Der Flüchtlingspakt etwa muss bald erneuert werden, das Geld dafür ist bereits im EU-Budgetrahmen einkalkuliert. Große Hürden dürfte es auch bei einer Visaliberalisierung nicht geben, ebenso wenig wie bei einer türkischen Beteiligung an der Zollunion.

Doch der generelle Widerstand innerhalb der EU gegenüber der Türkei ist fortwährend stark. Zypern und Griechenland sind auch weiterhin gegen engere Beziehungen, solange es im Zypern-Konflikt keine Fortschritte gibt. Und die baltischen und östlichen EU-Länder wollen nicht darüber hinwegsehen, dass die Türkei sich nicht an den westlichen Sanktionen gegen Russland beteiligt.

Der „nicht einfache Nachbar“

Dennoch müsse das Verhältnis zu Ankara angesichts der neuen „geopolitischen Relevanz“ verbessert werden, zitierte die „FT“ das Ziel des diplomatischen Diensts in Brüssel. Gerade Erdogans Kehrtwende gegenüber Schweden habe zu einer „Deeskalation“ der Spannungen geführt. „Wir schlucken den Forderungskatalog inklusive Mitgliedschaft nicht als Ganzes“, so ein involvierter EU-Beamter. „Aber es gibt tatsächlich die Bereitschaft vieler, zu schauen, wo wir stärker zusammenarbeiten können.“

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock warb am Donnerstag für neue Gespräche über die Beziehungen zur Türkei. Nach den jüngsten Wahlen in dem Land sei es wichtig, noch einmal zu reflektieren, wie man mit einem „nicht einfachen Nachbarn, aber einem globalen, strategisch wichtigen Akteur in unserer direkten Nachbarschaft“ zusammenarbeiten werde. „Jetzt nach den Wahlen ist ein Moment für eine strategische Reflexion.“

Doch für die wenigsten ist nun auch der Weg zu echten Beitrittsverhandlungen wieder geebnet. Diese Perspektive liege „tief im Eisfach“, so Baerbock.

Schallenberg: Beitrittsgespräche „seit Jahren eigentlich tot“

Auch Österreich steht einem möglichen EU-Beitritt der Türkei weiterhin strikt entgegen. „Wir erkennen die Rolle der Türkei in der Vermittlung des Getreideabkommens sehr stark an“, so Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP). Aber die Position zur Türkei sei „sehr klar“, das Beitrittsverfahren „liegt auf Eis“. Österreich habe sich „damals sogar für einen formellen Abbruch der Gespräche“ ausgesprochen. „In Wirklichkeit sollten wir eine pragmatische, funktionierende Nachbarschaft aufbauen mit der Türkei, statt dieser Illusion der Beitrittsgespräche, die seit Jahren eigentlich tot sind“, so Schallenberg.