Demonstranten blockieren die Zufahrt zum israelischen Parlament in Jerusalem
APA/AFP/Menahem Kahana
Justizumbau

Entscheidende Stunden für Israel

Israels Parlament wird nach derzeitigem Plan am Montag final über ein Kernelement der umstrittenen Regierungspläne zum Umbau der Justiz abstimmen. Allerdings laufen im Hintergrund noch immer höchstrangige Versuche, einen Kompromiss zu finden. Wird das Gesetz, das das Höchstgericht einschränkt, beschlossen, wird das in Israel die politische Spaltung noch weiter vertiefen und könnte das Land mittelfristig deutlich verändern.

Die Knesset in Jerusalem kam bereits am Sonntag zu einer Marathonsitzung zusammen, um im Plenum über den Gesetzesentwurf zu beraten. Mit der finalen Abstimmung wird nicht vor Montagnachmittag gerechnet. Präsident Jitzchak Herzog, eben von einer US-Reise zurückgekehrt, besuchte Regierungschef Benjamin Netanjahu in einem Tel Aviver Spital.

Bei dem „dringenden Treffen“ am Abend – Netanjahu wurde in der Nacht auf Samstag überraschend ein Herzschrittmacher eingesetzt – sei es darum gegangen, doch noch einen Kompromiss zwischen Regierung und Opposition über den umstrittenen Umbau der Justiz zu erreichen, teilte das Büro des Präsidenten mit. „Dies ist eine Zeit des Notfalls. Eine Einigung muss erzielt werden“, sagte er.

Israel: Knesset berät über Umbau der Justiz

In Israel hat das Parlament mit seinen Beratungen über ein Kernelement der umstrittenen Pläne zum Umbau der Justiz begonnen. Das Gesetz der rechtsreligiösen Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu soll in den kommenden Tagen verabschiedet werden.

Laut einem Sprechers des Scheba-Krankenhauses in Tel Haschomer nahe Tel Aviv hat der 73-jährige Netanjahu die Klinik inzwischen wieder verlassen. Er hatte am Sonntag erklärt, nach seiner Entlassung zu der Abstimmung über ein Kernelement des Justizumbaus ins Parlament gehen zu wollen.

Treffen mit Oppositionsführer Lapid

Nach Angaben seines Büros traf Herzog auch mit Oppositionsführer Jair Lapid zusammen. Geplant war auch ein Treffen mit Oppositionspolitiker Benni Ganz. Lapid zeigte sich nach dem Treffen mit einem Vorschlag Herzogs, über den zunächst keine Details bekanntwurden, einverstanden. „Ich werde mein Möglichstes tun, um einen breiten Konsens für ein demokratisches und starkes Israel zu erreichen“, schrieb er auf Twitter. Netanjahu äußerte sich nicht.

Zehntausende bei Protesten

Sowohl Gegner als auch Befürworter der Justizreform demonstrierten am Sonntagabend. Während in der Küstenstadt Tel Aviv Zehntausende Unterstützer des geplanten Justizumbaus zusammenkamen, versammelten sich in Jerusalem Zehntausende, die dem Vorhaben ablehnend gegenüberstehen. In Jerusalem hatte am Sonntagmittag eine Demonstration für einen Konsens beider Lager stattgefunden.

Herzogs Amtsvorgänger und Parteikollege Netanjahus, Reuven Rivlin, trat Sonntagabend beim Protest der Gegner vor der Knesset auf. Er rief dazu auf, „zuerst den Staat zu retten und erst dann abzurechnen“.

Israel: Proteste vor dem Parlament

Demonstrierende haben über Nacht in einem Park neben dem israelischen Parlament kampiert und Montagfrüh begonnen zu protestieren. Die Proteste fanden Stunden vor einer erwarteten Abstimmung im Parlament statt, bei welcher der erste wichtige Teil des umstrittenen Plans zum Umbau des israelischen Justizsystems verabschiedet werden soll. Viele der Demonstrierenden hatten einen sechstägigen Marsch von Tel Aviv in die Stadt hinter sich.

Ruf nach Generalstreik

Ein Zusammenschluss der 150 größten Unternehmen im Land rief für Montag zum Streik auf. Von der Arbeitsniederlegung betroffen sind auch einige große Einkaufszentren. Auch mehrere Hightech-Unternehmen wollen sich Berichten zufolge dem Streik anschließen. Die Start-up-Szene gilt als Zugpferd der israelischen Wirtschaft.

Der Dachverband der Gewerkschaften will zudem entscheiden, ob er einen Generalstreik ausruft. Gegner der Reform fordern das schon lange. Der Gewerkschaftsbund mit 800.000 Mitgliedern hatte Ende März wegen der Entlassung des Verteidigungsministers Joav Galant durch Netanjahu schon einmal zum Generalstreik aufgerufen. Galant hatte zuvor den Umbau der Justiz kritisiert. Netanjahu setzte die Pläne dann vorübergehend aus, Galants Entlassung wurde rückgängig gemacht.

Der Verteidigungsminister gab jüngst bekannt, sich um einen „Konsens“ in dem Streit über die Reform zu bemühen. Aus den Reihen der Armee wächst der Widerstand gegen das Vorhaben der Regierung. Rund 10.000 Reservistinnen und Reservisten kündigten am Wochenende an, nicht mehr zum Dienst zu erscheinen, sollte die Koalition ihre Pläne nicht stoppen. Berichten zufolge könnte das die Einsatzbereitschaft des Militärs erheblich beeinträchtigen.

Kompromissvorschlag der Gewerkschaft

Bisherige Verhandlungen zwischen der Koalition und der Opposition zur Justizreform unter Herzogs Federführung waren ohne Erfolg geblieben. Netanjahus Likud-Partei hatte zudem erst heute einen vor einigen Tagen vom Dachverband der Gewerkschaften (Histadrut) eingebrachten Vorschlag über eine Einigung abgelehnt.

Das zur Abstimmung anstehende Gesetz ist Teil eines größeren Pakets, das von Kritikern als Gefahr für Israels Demokratie eingestuft wird. Vor der Knesset und in anderen Teilen des Landes demonstrierten wieder Zehntausende Gegnerinnen und Gegner. Aber auch Befürworterinnen und Befürworter gingen auf die Straße.

Medienberichten zufolge griffen Befürworter der Justizreform einen Journalisten und dessen Kamerateam aus zunächst ungeklärter Ursache an. Den Angaben nach kamen viele der Demonstranten mit Bussen aus anderen Orten des Landes in das als liberal geltende Tel Aviv.

Besetzung und Gegenbesetzung der Hochburgen

Es ist notabene eine – bei allem Ernst des seit Monaten sich zuspitzenden Konflikts – nicht der Ironie entbehrende Verschiebung: Die Gegner der Reform rücken in Jerusalem ein, der Hochburg der Religiösen und Rechten, und umgekehrt marschieren diese im Zentrum des liberal-säkularen Lebensstils, Tel Aviv, auf, um für jeweils ihre Seite zu demonstrieren.

Die 150 größten Unternehmen des Landes – darunter Supermarktketten – wollen am Montag aus Protest gegen den Justizumbau nicht öffnen.

Politisches Überleben und Grundsatzfragen

Netanjahu hat wegen mehrerer Anklagen – unter anderem wegen Korruption – starkes Eigeninteresse, die Justiz zu schwächen. Dazu kommen seine rechten bis rechtsradikalen Koalitionspartner, die sich seit Jahren die Schwächung der Justiz auf die Fahne geheftet haben und ohne die Netanjahu sich nicht an der Macht halten kann. Die Basis zu allen gemäßigten und Mitte-links-Parteien hat Netanjahu in früheren Koalitionen zerstört. Keine von ihnen ist bereit, mit Netanjahu nochmals eine Koalition zu bilden.

Im Hintergrund geht es – nicht zuletzt aufgrund eines demografischen Wandels (steigender Anteil von Religiösen und Palästinensern, Anm.) – um grundsätzliche Fragen für das Land: Wie säkular bzw. wie religiös soll das öffentliche Leben sein? Wie viele Rechte sollen Minderheiten, etwa die rund 20 Prozent der Gesamtbevölkerung umfassenden israelischen Palästinenserinnen und Palästinenser, haben? Und, anhand des Konflikts um jüdische Siedlungen in besetzten Gebieten: Wie soll das Zusammenleben mit den Palästinensern und eine dauerhafte Lösung des Konflikts aussehen?