Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu
APA/AFP/Ronaldo Schemidt
Israel

Knesset beschloss Teil des Justizumbaus

Trotz großer Proteste im ganzen Land, des Drucks von Milizsoldaten, des geschlossenen Widerstands der Opposition und geradezu flehentlicher Appelle des Staatspräsidenten und des US-Präsidenten hat die rechts-religiöse Regierung in Israel Montagnachmittag den ersten Teil des Justizumbaus beschlossen. Das Weiße Haus kritisierte den Beschluss als „unglücklich“.

Bis zur letzten Minute hatte es hektische Versuche gegeben, doch noch einen Kompromiss zu finden, angeführt von Staatspräsident Jizchak Herzog. Doch letztlich wurde das Gesetz mit 64 Stimmen der Koalition in zweiter und dritter Lesung endgültig beschlossen. Die Opposition boykottierte geschlossen die Abstimmung und verließ den Saal.

Justizminister Jariv Levin, der den Justizumbau federführend betreibt, meinte unmittelbar nach der Entscheidung, man habe „einen ersten Schritt in einem historischen Prozess, der das Justizsystem des Landes repariert“, gemacht. Auch Verteidigungsminister Joav Galant, auf den bis zuletzt Hoffnungen der Opposition ruhten, er könnte sich in der Koalition für einen Kompromiss stark machen, stimmte für das Gesetz.

Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu in der Knesset
Reuters/Amir Cohen
Netanjahu im Plenarsaal mit Abgeordneten seiner rechts-religiösen Koalition

Beschränkung des Höchstgerichts

Tritt das Gesetz in dieser Form in Kraft, kann das Parlament dem Obersten Gerichtshof damit die Möglichkeit entziehen, Regierungsentscheidungen als „unangemessen“ einzustufen und so außer Kraft zu setzen. Die Klausel ist daher einer der umstrittensten Bestandteile der Justizreform. Kritiker fürchten eine willkürliche Besetzung hochrangiger Regierungsposten sowie eine Begünstigung von Korruption. Konkret verdächtigen sie Regierungschef Benjamin Netanjahu, gegen den ein Korruptionsverfahren läuft, seine Verurteilung abwenden zu wollen.

Oppositionsführer Jair Lapid kündigte Konsequenzen an. Die Opposition werde Dienstagfrüh beim Höchstgericht eine Petition gegen die „einseitige Aufhebung des demokratischen Charakters des Staates Israel“ einreichen, sagte er. Eine Aufhebung gilt allerdings als unwahrscheinlich. Das Höchstgericht in Israel, das keine Verfassung, aber einzelne Grundgesetze hat, hob bisher nie ein solches Grundgesetz als rechtswidrig auf. Genau ein solches wurde aber nun novelliert.

Lapid appellierte außerdem an Reservisten der Armee, eine Entscheidung des Höchstgerichts über das Gesetz abzuwarten, ehe sie ihren Dienst verweigern. Einer der Reservisten, die derzeit nicht zu den teils wöchentlichen Übungen einrücken und teils auch im Ernstfall laut eigenen Angaben nicht einrücken würden, betonte, man habe „einen Kampf verloren, aber nicht die gesamte Kampagne“.

Netanjahu sprach am Abend von einem „notwendigen demokratischen Schritt“. Dieser ermögliche der gewählten Führung das Regieren im Sinne der Mehrheit der Bürger. Die Erfüllung des Wählerwillens sei „das Wesen der Demokratie“ – und nicht ihr Ende, so Netanjahu.

Der Dachverband der Gewerkschaften will über die Ausrufung eines Generalstreiks beraten.

Folgen unklar

Unklar ist, wie es mit den Protesten auf der Straße längerfristig weitergeht, nach der Entscheidung reagierten die Protestierenden vor der Knesset wütend. Einer der Organisatoren betonte gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk Kan, die Proteste würden wie bisher weitergehen. Am Abend gab es bei einem Zwischenfall drei Verletzte, als ein Auto in einem Ort nördlich von Tel Aviv in eine Menschenmenge aus Demonstranten raste.

Unklar ist unterdessen ebenso, wie die Wirtschaft, die weitgehend geschlossen gegen den Justizumbau ist, reagiert. International könnte eine Herabsetzung des Kreditratings der internationalen Agenturen drohen. Das hatten diese vor Monaten bei der letzten regulären Bewertung in ihren Ausblicken in Aussicht gestellt. Unklar ist auch, ob der Beschluss konkrete Auswirkungen auf die internationalen Beziehungen, insbesondere zu den USA, haben wird.

Luftansicht zeigt Hunderte Zelte der Demonstranten nahe der Knesset in Jerusalem
Reuters/Ilan Rosenberg
Zeltlager der Gegnerinnen und Gegner des Justizumbaus nahe dem israelischen Parlament

USA: Beschluss „unglücklich“

Jedenfalls belasten die Umbaupläne der Regierung die Beziehungen Israels mit dem Verbündeten USA. Ein Sprecher des Weißen Hauses nannte den Gesetzesbeschluss „unglücklich“ und forderte erneut die Regierung auf, „durch politischen Dialog auf einen Kompromiss hinzuarbeiten“. US-Präsident Joe Biden habe immer wieder deutlich zum Ausdruck gebracht, dass große Veränderungen in einer Demokratie einen möglichst breiten Konsens erforderten, um dauerhaft zu sein, teilte seine Sprecherin in Washington mit.

Auch die deutsche Bundesregierung brachte ihre Besorgnis zum Ausdruck: „Wir bedauern sehr, dass die Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition unter Vermittlung von Staatspräsident Isaac Herzog vorerst gescheitert sind“, hieß es aus dem Auswärtigen Amt. Deutschland blicke „mit großer Sorge auf die sich vertiefenden Spannungen in der israelischen Gesellschaft“. Es bleibe wichtig, „dass einer breiten gesellschaftlichen Debatte ausreichend Zeit und Raum gegeben wird, um einen neuen Konsens zu ermöglichen“, hieß es weiter.

US-Präsident Biden hatte Netanjahu bis zuletzt direkt und via Interviews gedrängt, bei einer Justizreform einen breiten Konsens anzustreben. Einer vom Fernsehsender Kan veröffentlichten Umfrage zufolge sind 46 Prozent der Israelis gegen die Reform, 35 Prozent befürworten sie, und 19 Prozent sind unentschlossen.

ORF-Korrespondent Cupal zu Israels Justizumbau

Israel-Korrespondent Tim Cupal kommentiert die Kritik an Israels Justizumbau, in der Demonstrierende und Opposition wegen der Einschränkung der Höchstgerichtsbefugnisse einen Staatsstreich sehen.

Politisches Überleben und Grundsatzfragen

Netanjahu hat wegen mehrerer Anklagen – unter anderem wegen Korruption – ein starkes Eigeninteresse, die Justiz zu schwächen. Dazu kommen seine rechten bis rechtsradikalen Koalitionspartner, die sich seit Jahren die Schwächung der Justiz auf die Fahne geheftet haben und ohne die sich Netanjahu nicht an der Macht halten kann. Die Basis zu allen gemäßigten und Mitte-links-Parteien hat Netanjahu in früheren Koalitionen zerstört. Keine von ihnen ist bereit, mit Netanjahu nochmals eine Koalition zu bilden.

Im Hintergrund geht es – nicht zuletzt aufgrund eines demografischen Wandels, nämlich des steigenden Anteils von Religiösen und Palästinensern – um grundsätzliche Fragen für das Land: Wie säkular bzw. wie religiös soll das öffentliche Leben sein? Wie viele Rechte sollen Minderheiten, etwa die rund 20 Prozent der Gesamtbevölkerung umfassenden israelischen Palästinenserinnen und Palästinenser, haben? Und anhand des Konflikts über jüdische Siedlungen in besetzten Gebieten: Wie sollen das Zusammenleben mit den Palästinensern und eine dauerhafte Lösung des Konflikts aussehen?