Oberstes Gericht Israels
Getty Images/Gal Productions
Justizumbau

Israels Höchstgericht soll entscheiden

Nach dem Beschluss eines zentralen Teils des Umbaus der israelischen Justiz, der das Land seit Monaten tief spaltet, will die Opposition das Höchstgericht anrufen. Ausgerechnet das Höchstgericht, dessen Handlungsfähigkeit durch das beschlossene Gesetz stark eingeschränkt wird, soll entscheiden, ob dieses Gesetz einseitig den „demokratischen Charakter Israels“ aufhebt.

Oppositionsführer Jair Lapid kündigte unmittelbar nach dem Beschluss Montagnachmittag nächste Schritte an. Die Opposition brachte am Dienstag beim Höchstgericht mehrere Petitionen gegen die „einseitige Aufhebung des demokratischen Charakters des Staates Israel“ ein.

Eine Aufhebung gilt allerdings als unwahrscheinlich. Das Höchstgericht in Israel, das keine Verfassung, aber einzelne Grundgesetze kennt, hat bisher nie ein solches Grundgesetz als rechtswidrig aufgehoben. Formal war der nunmehrige Beschluss eine Novelle des bestehenden „Grundgesetzes Justiz“. Die Novelle schränkt die höchstgerichtliche Kontrolle von Entscheidungen der Regierung stark ein. Ebenfalls in einem solchen Grundgesetz wird allerdings Israel als jüdischer und demokratischer Staat definiert.

Israels Parlament beschließt Justizumbau

Das Parlament in Israel hat sich von den monatelangen Massenprotesten nicht beeindrucken lassen und hat am Montag für den Umbau der Justiz gestimmt. Israels neue Regierung spricht von einer notwendigen Entscheidung, um den politischen Einfluss der Gerichte zurückzudrängen.

Beschränkung des Höchstgerichts

Tritt das Gesetz – Teil einer ganzen Reihe an bereits geplanten Justizgesetzen – in dieser Form in Kraft, kann das Parlament dem Obersten Gerichtshof damit die Möglichkeit entziehen, Regierungsentscheidungen als „unangemessen“ einzustufen und so außer Kraft zu setzen. Die Klausel ist daher einer der umstrittensten Bestandteile des Gesetzespakets. Zugleich bringt es das Höchstgericht in die schwierige Situation, über ein Gesetz zu befinden, das es selbst unmittelbar betrifft.

Kritiker fürchten eine willkürliche Besetzung hochrangiger Regierungsposten sowie eine Begünstigung von Korruption. Konkret verdächtigen sie Regierungschef Benjamin Netanjahu, gegen den ein Korruptionsverfahren läuft, seine Verurteilung abwenden zu wollen.

Mit dem Gesetz wird jedenfalls das Kräfteverhältnis stark in Richtung Exekutive, also Regierung, verschoben und die kontrollierende Judikative geschwächt. Dabei ist die israelische Regierung ohnehin mächtiger als in vielen anderen demokratischen Staaten. Denn die Exekutivgewalt ist stark zentralisiert, Kommunen haben grundsätzlich weniger Eigenständigkeit als in anderen Ländern, eine mittlere Verwaltungsebene wie Bundesländer gibt es in Israel gar nicht.

Anhörung am Obersten Gericht Israels
Reuters/Ronen Zvulun
Das Höchstgericht gilt vielen als letzte Hüterin der Demokratie, für die Rechte ist es seit Jahren ein „rotes Tuch“

Regierungsfraktionen allein bei Votum

Bis zur letzten Minute hatte es hektische Versuche gegeben, doch noch einen Kompromiss zu finden, angeführt von Staatspräsident Jizchak Herzog. Doch letztlich wurde das Gesetz mit 64 Stimmen der Koalition in zweiter und dritter Lesung endgültig beschlossen. Die Opposition boykottierte geschlossen die Abstimmung und verließ den Saal.

Justizminister Jariv Levin, der den Justizumbau federführend betreibt, meinte unmittelbar nach der Entscheidung, man habe „einen ersten Schritt in einem historischen Prozess, der das Justizsystem des Landes repariert“, gemacht. Auch Verteidigungsminister Joav Galant, auf den bis zuletzt Hoffnungen der Opposition ruhten, er könnte sich in der Koalition für einen Kompromiss starkmachen, stimmte für das Gesetz.

„Kampf verloren, aber nicht die ganze Kampagne“

Lapid appellierte außerdem an Reservisten der Armee, eine Entscheidung des Höchstgerichts über das Gesetz abzuwarten, ehe sie ihren Dienst verweigern. Einer der Reservisten, die derzeit nicht zu den teils wöchentlichen Übungen einrücken und teils auch im Ernstfall laut eigenen Angaben nicht einrücken würden, betonte, man habe „einen Kampf verloren, aber nicht die gesamte Kampagne“. Laut der Tageszeitung „Haaretz“ informierten nach dem Gesetzesbeschluss bereits Hunderte Reservisten ihre Vorgesetzten, dass sie nicht mehr einrücken werden.

Armeechef Herzi Halevi, den Netanjahu entgegen Halevis Wunsch erst nach dem Gesetzesbeschluss empfing, warnte laut „Haaretz“ den Premier vor öffentlicher Kritik an den dienstverweigernden Reservisten. Die Armee befürchte einen Schaden für die Einsatzbereitschaft. Bei Kritik der Regierung, den Dienst für das Land zu verweigern, verweisen diese darauf, dass sie teils seit Jahrzehnten freiwillig einrücken und im Gegensatz dazu die Regierung die religiös-orthodoxen Männer per Gesetz vom Wehrdienst befreit.

Netanjahu: „Notwendiger demokratischer Schritt“

Netanjahu sprach am Abend indes von einem „notwendigen demokratischen Schritt“. Dieser ermögliche der gewählten Führung das Regieren im Sinne der Mehrheit der Bürger. Die Erfüllung des Wählerwillens sei „das Wesen der Demokratie“ – und nicht ihr Ende, so Netanjahu.

Der Dachverband der Gewerkschaften will über die Ausrufung eines Generalstreiks beraten.

Wasserwerfer gegen Demonstranten in Israel
Reuters/Ronen Zvulun
Die Polizei ging unter anderem mit stinkendem Wasser gegen Demonstrierende vor

Protestlager will mit voller Kraft weitermachen

Unklar ist, wie es mit den Protesten auf der Straße längerfristig weitergeht, nach der Entscheidung reagierten die Protestierenden wütend. Die Polizei ging mit Wasserwerfern, gefüllt mit „stinkender Flüssigkeit“, vor, so der öffentlich-rechtliche Rundfunk Kan, vor. Einer der Hauptorganisatoren betonte, die Proteste würden unvermindert weitergehen.

Medienberichten zufolge wurden Montagabend landesweit mindestens 34 Protestierende festgenommen und mehrere Menschen unter anderem durch den Einsatz von Wasserwerfern verletzt. In mehreren Orten kam es demnach zu Zusammenstößen zwischen der Polizei und Demonstranten. Gegner des Justizumbaus blockierten den Berichten nach mehrere Straßen im Land. In Tel Aviv marschierten Tausende am Abend stundenlang auf einer zentralen Autobahn.

ORF-Korrespondent Cupal zu Israels Justizumbau

ORF-Israel-Korrespondent Tim Cupal kommentiert die Kritik an Israels Justizumbau, in der Demonstrierende und Opposition wegen der Einschränkung der Höchstgerichtsbefugnisse einen Staatsstreich sehen.

Bei einer Kundgebung in einem Ort nördlich von Tel Aviv raste ein Auto in die Menge. Drei Demonstranten wurden dabei laut Polizei verletzt. Die Sicherheitskräfte nahmen den Fahrer, dessen Motiv am Abend noch unklar war, nach einer Fahndung fest.

Auch unklar ist, wie die Wirtschaft, die weitgehend geschlossen gegen den Justizumbau ist, reagiert. Dem Land droht zudem eine Herabsetzung des Kreditratings durch internationale Agenturen. Das hatten diese vor Monaten bei der letzten regulären Bewertung in ihren Ausblicken in Aussicht gestellt.

USA: Beschluss „unglücklich“

Unklar ist auch, ob der Beschluss konkrete Auswirkungen auf die internationalen Beziehungen, insbesondere zu den USA, haben wird. Jedenfalls belasten die Umbaupläne der Regierung die Beziehungen Israels mit dem Verbündeten USA.

Ein Sprecher des Weißen Hauses nannte den Gesetzesbeschluss „unglücklich“ und forderte erneut die Regierung auf, „durch politischen Dialog auf einen Kompromiss hinzuarbeiten“. US-Präsident Joe Biden habe immer wieder deutlich zum Ausdruck gebracht, dass große Veränderungen in einer Demokratie einen möglichst breiten Konsens erforderten, um dauerhaft zu sein, teilte seine Sprecherin in Washington mit.

Biden hatte Netanjahu bis zuletzt direkt und via Interviews gedrängt, bei einer Justizreform einen breiten Konsens anzustreben. Einer vom Fernsehsender Kan veröffentlichten Umfrage zufolge sind 46 Prozent der Israelis gegen die Reform, 35 Prozent befürworten sie, und 19 Prozent sind unentschlossen.

Auch die deutsche Bundesregierung brachte ihre Besorgnis zum Ausdruck: „Wir bedauern sehr, dass die Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition unter Vermittlung von Staatspräsident Isaac Herzog vorerst gescheitert sind“, hieß es aus dem Auswärtigen Amt.

Abstimmung in der Knesset
IMAGO/Debbie Hill
Das Plenum der Knesset am Tag der entscheidenden Abstimmung

Politisches Überleben und Grundsatzfragen

Netanjahu hat wegen mehrerer Anklagen – unter anderem wegen Korruption – ein starkes Eigeninteresse, die Justiz zu schwächen. Dazu kommen seine rechten bis rechtsradikalen Koalitionspartner, die sich seit Jahren die Schwächung der Justiz auf die Fahne geheftet haben und ohne die sich Netanjahu nicht an der Macht halten kann. Die Basis zu allen gemäßigten und Mitte-links-Parteien hat Netanjahu in früheren Koalitionen zerstört. Keine von ihnen ist bereit, mit Netanjahu nochmals eine Koalition zu bilden.

Im Hintergrund geht es – nicht zuletzt aufgrund eines demografischen Wandels, nämlich des steigenden Anteils von Religiösen und Palästinensern – um grundsätzliche Fragen für das Land: Wie säkular bzw. wie religiös soll das öffentliche Leben sein? Wie viele Rechte sollen Minderheiten, etwa die rund 20 Prozent der Gesamtbevölkerung umfassenden israelischen Palästinenserinnen und Palästinenser, haben? Und anhand des Konflikts über jüdische Siedlungen in besetzten Gebieten: Wie sollen das Zusammenleben mit den Palästinensern und eine dauerhafte Lösung des Konflikts aussehen?