Israelische Soldaten nahe Ramallah
AP/Majdi Mohammed
Bibelstudium statt Militärdienst

Neue Front in Israels Kulturkampf

Für jene Israelis, die den Justizumbau der rechts-religiösen Regierung seit Monaten bekämpfen, ist es eine Provokation und ein Affront: Wie nun bekannt wurde, hat eine Regierungspartei am Montag, als das umstrittene Gesetz zur Beschränkung des Höchstgerichts beschlossen wurde, ein weiteres Gesetz in die Knesset eingebracht: Es sieht vor, jüdisch-orthodoxe Männer per Gesetz vom Militärdienst zu befreien. Potenziell weitreichende Folgen hat die juristische Begründung des Gesetzesvorschlags: Sie definiert Bibelstudium als gleichwertig mit Militärdienst.

Die Tatsache, dass Orthodoxe nur zu einem minimalen Prozentsatz Militärdienst leisten, obwohl dieser grundsätzlich für alle Männer und Frauen verpflichtend ist, ist seit Jahrzehnten immer wieder eines der umstrittensten gesellschaftspolitischen Themen. Die Folge: Schon bei der Staatsgründung gab es keine verbindliche Regelung, um die nationale Einheit im Unabhängigkeitskrieg und den Jahren des Aufbaus nicht zu gefährden. Vielmehr wurde eine Ausnahme definiert, um die sich im Lauf der Jahrzehnte regelmäßig ein Konflikt entzündete.

In der säkularen Bevölkerung gab und gibt es mehr oder weniger starken Unmut über die Ungleichbehandlung. Umso mehr, als die orthodoxe Bevölkerung zu den ärmsten Sektoren der Gesellschaft gehört und entsprechend viel staatliche Sozialhilfe erhält. Aus religiösen Gründen widmet sich ein Gros der orthodoxen Männer dem Bibel- und Talmudstudium und geht keiner Arbeit nach. Und wenn, dann ist es – wegen des geringen Ausbildungsniveaus – oft eine nur schlecht bezahlte Tätigkeit.

Mehrmals hob das Höchstgericht seit den 1990er Jahren verschiedene Ausnahmeregelungen wegen Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz auf – zuletzt 2017. Seitdem gibt es keine Regelung, und verschiedene Regierungen seither erbaten beim Höchstgericht immer wieder Aufschub. Nicht nur eine Koalition zerbrach an dieser Streitfrage.

Ultra-orthodoxe Juden studieren in Jerusalem in einer Jeschiwa
Reuters/Ronen Zvulun
Das gemeinsame Studium jüdischer Texte in einer Jeschiwa

Bibelstudium als „höchste Dringlichkeit“

Nun brachte die ultraorthodoxe Partei Jahadut Torah laut israelischen Medienberichten von Dienstag einen Gesetzesentwurf ein, der vorsieht, dass das religiöse Bibel- und Talmudstudium in Jeschiwot dem Militärdienst gleichgestellt wird. Es soll in Form eines Grundgesetzes – diese Einzelartikel sollen irgendwann in der Zukunft die Grundlage für die bisher nicht existente Verfassung bilden – beschlossen werden.

Es ist eine Umkehrung der bisherigen Versuche, eine Regelung zu finden. Wurde bisher nach einer dem Gleichheitsgrundsatz gerecht werdenden Ausnahmeregelung gesucht, wird laut diesem Entwurf das religiöse Studium de facto als Pflichterfüllung gegenüber dem Staat definiert.

Opposition: Schlag gegen Zukunft Israels

Das ist für Außenstehende angesichts der sicherheitspolitischen Lage Israels zumindest überraschend. Für den säkularen Teil der Bevölkerung ist es eine Provokation, für die Orthodoxen dagegen logisch und richtig.

In der Koalition versuchte man zu beschwichtigen, und Vertreter der Likud-Partei von Premier Benjamin Netanjahu betonten umgehend, das Gesetz stehe derzeit nicht auf der Agenda. Im Koalitionsabkommen ist eine Regelung der Militärdienstbefreiung freilich vereinbart.

Allein das Timing des nunmehrigen Gesetzesvorschlags kommt für die politische Gegenseite einer Provokation gleich. Der Ex-Armeechef und nunmehrige Abgeordnete der Zentrumspartei Nationale Einheit, Gadi Eisenkot, sprach in einer ersten Reaktion von einem „tödlichen Schlag für die israelische Armee als Volksarmee“, sein Parteikollege Beni Ganz von einem „strategischen Schlag gegen die Zukunft des Staates Israel“.

Israelische Soldaten in der Westbank
AP/Ohad Zwigenberg
Soldaten sichern einen illegal errichteten Vorposten einer jüdischen Siedlung im besetzten Westjordanland

Bezug auf Nationalstaat-Grundgesetz

Der Entwurf bezieht sich auf ein anderes, relativ neues, israelisches Grundgesetz, das Israel 2018 als „Nationalstaat des jüdischen Volkes“ definierte. Im Entwurf heißt es laut der Tageszeitung „Jediot Ahronot“ (Onlineausgabe), dass „der Staat Israel als jüdischer Staat höchste Dringlichkeit in der Förderung des Bibelstudiums und der Studierenden sieht“. Es gehe darum, „entsprechend dem Grundgesetz (gemeint: Israel als jüdischer Nationalstaat, Anm.), die Wichtigkeit und große Bedeutung, die der Staat Israel im Bibelstudium sieht und seine Absicht, das Bibelstudium zu fördern, zu verankern.“ Das ist seit vielen Jahren die erklärte Position der orthodoxen Parteien, und nun wollen sie offenbar ihre Position in ein Gesetz gießen.

Sensibles und ungeklärtes Verhältnis

Anders gesagt: Das Gesetz legt fest, dass die Jeschiwot den jüdischen Charakter Israels sicherstellen. Es ist eine Verbindung von Staat und Religion, die potenziell weitreichende Folgen haben könnte. Ohnehin fürchten nicht wenige säkulare Israelis den wachsenden Einfluss der Religion im Alltag – konkret etwa von der Öffnung von Geschäften und Lokalen bis hin zum öffentlichen Verkehr am Schabbat. Immer wieder ist auch von der Gefahr einer Theokratie die Rede.

Das Verhältnis von Staat und Religion ist in Israel schon immer ein ebenso zentrales wie sensibles Thema. Dass dabei über Jahrzehnte oft mehr mit informellen Abmachungen als dezidierten Gesetzen gearbeitet wurde, hat wohl vor einer gefährlichen, unumkehrbaren Zuspitzung bewahrt.

Vergiftetes Klima

Mit dem Justizumbau – dem am Montag beschlossenen sollen weitere Gesetze folgen, die die Justiz schwächen würden – und dem Gesetz zur Befreiung Orthodoxer vom Militärservice hat sich die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung in Israel zu einem offenen Kulturkampf zugespitzt. Auf beiden Seiten ist viel stärker das Gefühl verbreitet, in einem schicksalshaften Kampf um die Zukunft des Landes zu sein, in dem es eine möglichst klare Entscheidung braucht.
Immer wieder ist in Medien von einem drohenden oder bereits ausgebrochenen „kalten“ Bürgerkrieg die Rede.

Demonstration in Israel
AP/Ohad Zwigenberg
Protest gegen den Justizumbau

Die Gegner der rechts-religiösen Regierung werfen dieser vor, höchstens formal noch eine Demokratie erhalten zu wollen und verweisen auf Entwicklungen in Ungarn und Polen. De facto wolle die Koalition, es ist die am weitesten rechte, die Israel jemals hatte, aber nur die eigenen Ziele ohne Rücksicht auf die gesamte Bevölkerung umsetzen.

Der politische Diskurs ist mittlerweile so vergiftet und das gegenseitige Misstrauen so groß, dass Kompromisse teils auf den letzten Metern scheitern. Auch beim am Montag beschlossenen Gesetz hatten sich die beiden Seiten laut israelischen Medienberichten weitgehend angenähert. Eine Einigung kam letztlich aber nicht zustande.