Ukrainische Soldaten in der Region Saporischschja
IMAGO/Sipa USA/Ukrinform
Gegenoffensive

Vorstoß nährt Hoffnung der Ukraine

Die ukrainische Armee scheint einen Schwachpunkt in den russischen Verteidigungslinien gefunden zu haben. Laut Berichten gelang den Streitkräften ein Durchbruch im Westen des Gebiets Saporischschja. Sollte sich der Vorstoß tatsächlich als erfolgreich erweisen, wäre das ein erster Schritt, einen Keil in von Russland besetztes Territorium bis zum Asowschen Meer zu schlagen. Internationale Militärexperten warnen aber vor zu hohen Erwartungen.

Der US-Thinktank Institute for the Study of War (ISW) schrieb von einer bedeutenden ukrainischen Gegenoffensive. Dabei seien anscheinend einige russische Verteidigungsstellungen südlich von Orichiw beim Ort Robotyne durchbrochen worden. Laut ISW wird der Durchbruch von russischen Militärbloggern unterschiedlich beschrieben, von 30 bis 80 gepanzerten Fahrzeugen auf ukrainischer Seite sei die Rede. Das ISW wertet das als Anzeichen, dass die Lage noch unklar sei.

Allerdings geht man davon aus, dass mit dem Durchbrechen der ersten Verteidigungslinie zunächst weniger Widerstand durch russische Truppen warte. Die Ukrainer scheinen laut ISW für die Operation neue Kräfte in dieses Gebiet verlegt zu haben, während die russischen Streitkräfte seit Anfang Juni ununterbrochen und ohne Verstärkung oder Kampfpause an der Frontlinie festsitzen. Auch dieser Umstand spreche für erfolgreichere Vorstöße in diesem Gebiet in den kommenden Wochen.

„Der große Test“

Laut „New York Times“ handelt sich um den bisher wichtigsten Vorstoß gegen die russischen Invasoren. Daran seien im Südosten des Landes Tausende teils vom Westen ausgebildete und ausgerüstete Soldaten beteiligt, berichtete die US-Zeitung am Donnerstag unter Berufung auf zwei Pentagon-Beamte.

„Das ist der große Test“, zitierte die „New York Times“ einen hochrangigen Beamten. Auch Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach am Mittwoch von deutlichen Erfolgen. „Übrigens haben unsere Burschen heute sehr gute Fortschritte an der Front erzielt“, sagte er in seiner abendlichen Videoansprache. „Gut für sie! Details werden noch bekanntgegeben.“

Keil bis zum Meer als Ziel

Die ukrainischen Soldaten wollen bei ihrer neuen Offensive durch von Russland gelegte Minenfelder und andere Barrieren in Richtung Süden zur Stadt Tokmak und schließlich bis ins etwa 40 Kilometer von der Küste entfernte Melitopol vordringen.

Ziel sei es, die Landbrücke zwischen der russisch-besetzten Ukraine und der Halbinsel Krim zu durchtrennen oder zumindest so weit vorzurücken, dass die strategisch wichtige Halbinsel in Reichweite gerate. Die Schwarzmeer-Halbinsel wurde 2014 von Russland annektiert. Der Vorstoß könne bei einem erfolgreichen Verlauf bis zu drei Wochen dauern, hieß es unter Berufung auf ukrainische Beamte weiter. Melitopol gilt zudem als wichtiges Drehkreuz für die russischen Versorgungslinien sowohl zur Krim als auch zum westlich gelegenen Gebiet Cherson. Gelingt der Durchbruch bis zum Meer wären die dortigen russischen Verbände völlig abgeschnitten.

Warnung vor überzogenen Erwartungen

Allerdings warnte das ISW, dass westliche Offizielle Erwartungen auf schnelle ukrainische Vorstöße weckten, die die ukrainischen Streitkräfte wahrscheinlich nicht erfüllen könnten. Das ISW gehe zwar weiter davon aus, dass die Ukraine bei ihren Gegenoffensiven erhebliche Fortschritte erzielen könne, aber über einen langen Zeitraum.

Vor überzogenen Erwartungen warnten auch die Militärexperten Michael Weiss und James Rushton in einem Beitrag für die Onlineplattform New Lines Magazine. Die beiden beschrieben etwa die gefährliche und mühevolle Aufgabe, verminte Gebiete für Vorstöße zu sichern. Gleichzeitig widersprachen sie aber auch den Darstellungen, die bisherigen Bemühungen der Ukraine seien erfolglos gewesen. Zwar habe es tatsächlich keine größeren Gebietsgewinne gegeben, dafür hätten die Ukrainer aber erfolgreich Munitionslager und Artillerieposten beschossen und damit die russischen Streitkräfte stark geschwächt.

General spricht von „massenhaften Todesfällen“

Weiss und Rushton verwiesen auf Erfahrungsberichte von russischen Soldaten und Befehlshabern, die die Intensität der ukrainischen Angriffe beklagen. Bekanntestes Beispiel war zuletzt der hochrangige General Iwan Popow, er war vor Kurzem Befehlshaber in Saporischschja. Er wurde allerdings abgelöst, nachdem eine an seine Soldaten gerichtete Sprachnotiz über einen russischen Parlamentarier veröffentlicht wurde. Darin kritisierte der General fehlende frische Kräfte wie mangelhafte technische Ausrüstung und beklagte die „massenhaften Todesfälle und Verletzungen unserer Brüder durch feindliche Artillerie“.

Schwere Gefecht im Norden

Selenskyj verkündete am Donnerstagabend unterdessen die Rückeroberung einer weiteren Ortschaft. „Unser Süden! Unsere Jungs! Ruhm der Ukraine!“, schrieb Präsident Wolodymyr Selenskyj auf Telegram. Dazu veröffentlichte er ein Video, das in Staromajorske im Süden des Gebiets Donezk aufgenommen worden sein soll. Zu sehen sind darin mehrere Soldaten, die sich als Kämpfer der 35. Brigade vorstellen und die eine ukrainische Flagge halten. Sie hätten den vor dem Krieg von rund 5.000 Menschen bewohnten Ort vollständig befreit, sagt einer der Männer.

Fortschritte macht die ukrainische Armee nach einigen Angaben auch im Süden von Bachmut. Schwere Kämpfe gibt es weiterhin weiter nördlich an der Front entlang der Städte Kupiansk, Swatowe und Kreminna. Dort versucht die russische Armee seit Wochen Vorstöße und erzielt zeitweise auch kleinere Landgewinne, die ukrainischen Truppen halten dagegen. Experten glauben, dass Russland beabsichtigt, die Ukraine zu einer Verstärkung der Verteidigung dort zu zwingen und damit Truppen von anderen Fronten abzuziehen.