Soldaten an Checkpoint bei Lachin Korridor,
APA/AFP/Tofik Babayev
Bergkarabach

Straßenblockade als „Hebel“ in Konflikt

Seit Monaten kontrollieren aserbaidschanische Truppen den Latschin-Korridor, die einzige Verbindungsstraße von Armenien in die umkämpfte Region Bergkarabach. Nahrungsmittel, Medikamente und Hygieneartikel kommen kaum noch durch, Warnungen vor einer Hungersnot werden laut. Für Baku sei der Korridor der „maßgebliche Hebel“ für den weiteren Konfliktverlauf, sagt der Kaukasus-Experte Hannes Meißner. An eine baldige Verhandlungslösung glaubt er dennoch nicht.

Die Versorgungslage in Bergkarabach mit seinen etwa 120.000 Einwohnerinnen und Einwohnern ist seit Monaten angespannt und verschlechterte sich zuletzt weiter. Armenische und internationale Medien zeigten Aufnahmen von leeren Regalen in Supermärkten, Drogerien und Apotheken. Der Leiter der Kinder- und Geburtsklinik in der Hauptstadt Stepanakert berichtete gegenüber einer lokalen Nachrichtenagentur, die Zahl der Fehlgeburten habe sich im vergangenen Monat verdreifacht. Als Gründe nannte er die Mangelernährung und die psychische Belastung, der Schwangere aufgrund der derzeitigen Situation ausgesetzt seien.

Auch von Hilfslieferungen ist Bergkarabach abgeschnitten. Trotz beharrlicher Bemühungen sei man zurzeit nicht in der Lage, die Zivilbevölkerung mit humanitärer Hilfe zu versorgen, erklärte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK). Zuletzt sei es der Organisation „vor mehreren Wochen“ möglich gewesen, medizinische Güter und wichtige Nahrungsmittel in das Gebiet zu bringen, teilte das IKRK Ende Juli mit.

Lebensader nach Krieg 2020

Die Wurzeln des Bergkarabach-Konflikts reichen lange zurück. Vor über 100 Jahren schlug die Sowjetführung das mehrheitlich von Armenierinnen und Armeniern bewohnte Gebiet Aserbaidschan zu. 1991 erklärte sich die „Republik Karabach“, die gänzlich auf aserbaidschanischem Staatsgebiet liegt, für unabhängig. International anerkannt ist sie bis heute nicht.

Transport von Hilfsgütern in Bergkarabach
APA/AFP/Karen Minasyan
Die Einfuhr von Hilfsgütern in Bergkarabach ist laut IKRK derzeit nicht möglich

In den 1990ern kam es zum Krieg. Mit Hilfe der armenischen Armee gelang es den Truppen der selbst ernannten Republik, Gebiete um Bergkarabach zu besetzen und eine Landverbindung zu Armenien herzustellen. Bis zu 50.000 Menschen wurden damals getötet, Hunderttausende vertrieben.

Im Herbst 2020 brach abermals Krieg aus. Aserbaidschanische Streitkräfte eroberten große Teile der Gebiete zurück. Der mehrere Kilometer breite Korridor, benannt nach der Stadt Latschin, ist seither die Verbindung zwischen Armenien und der „Republik Arzach“, in die sich Bergkarabach 2017 umbenannte. Im Zuge eines Ende 2020 von Moskau vermittelten Waffenstillstands wurde russischen Friedenstruppen die Überwachung des Korridors übertragen.

„Gezielt prekäre Lage schaffen“

Ihren Ausgang genommen hatte die Blockade des Latschin-Korridors vor circa sieben Monaten als Protest gegen „Umweltzerstörungen“ in Bergkarabach. Baku zufolge handelte es sich bei den Aktivistinnen und Aktivisten um Mitglieder der Zivilgesellschaft. Eriwan dagegen sah die aserbaidschanische Staatsführung hinter den Protesten. Schon damals kam es zu Engpässen bei der Versorgung der Zivilbevölkerung.

Leere Regale eines Lebensmittelgeschäfts in Bergkarabach
APA/AFP/Davit Ghahramanyan
In Bergkarabach werden Lebensmittel wie Obst und Gemüse knapp

Ende April errichtete das aserbaidschanische Militär einen Kontrollpunkt am Latschin-Korridor. Seither ist der Güter- und Personenverkehr beinahe gänzlich unterbrochen. Baku rechtfertigt die Einrichtung des Armeepostens laut der Denkfabrik International Crisis Group neuerdings mit Textpassagen aus dem Waffenstillstandsabkommen. Demzufolge sei Aserbaidschan entlang der Route für die Sicherheit von Personen, Fahrzeugen und Gütern zuständig. Eriwan und Moskau, die das Abkommen ebenfalls unterzeichnet haben, weisen diese Interpretation zurück.

Durch die „Nichtfähigkeit oder den Nichtwillen“ Russlands, die Straße offen zu halten, könne Baku den Latschin-Korridor als „Hebel“ ausspielen, sagt Meißner, der einer der Leiter der auf den postsowjetischen Raum spezialisierten Risiko- und Strategieberatung LM Prisk ist. „Das zielt darauf ab, das Territorium zu isolieren und gezielt eine prekäre Lage zu schaffen – und damit Armenien und den Behörden Bergkarabachs zu zeigen, dass es keinen Ausweg gibt und man sich einer Lösung im Interesse Aserbaidschans beugen soll“, so Meißner weiter.

Schwierige Verhandlungen

Neben Russland haben sich mittlerweile auch die EU und die USA als Vermittler ins Spiel gebracht. Die Europäische Union entsandte eine Beobachtungsmission in den Südkaukasus. Brüssel und Washington riefen die Konfliktparteien zum Gewaltverzicht und zum Ende der scharfen Rhetorik auf.

Ilham Alijew, Charles Michel und Nikol Paschinjan
APA/AFP/Kenzo Tribouillard
Alijew, EU-Ratspräsident Michel, Paschinjan (von links): Die EU hat sich als Vermittlerin in den Konflikt eingeschaltet

Aserbaidschans Machthaber Ilham Alijew und Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan betonten zuletzt in Interviews mit dem TV-Sender EuroNews ihr Interesse an konstruktiven Gesprächen. Wenn die armenische Seite alle ihre Bestrebungen, die territoriale Integrität Aserbaidschans infrage zu stellen, aufgebe, „dann können wir vielleicht sehr bald eine Friedenslösung finden, sogar bis zum Jahresende“, sagte Alijew gegenüber EuroNews. Um zu einer friedlichen Lösung zu kommen, brauche es „Ruhe, Flexibilität und Geschick“, so Paschinjan.

Im Frühjahr hatte Paschinjan mit der Ankündigung aufhorchen lassen, Bergkarabach als aserbaidschanisches Territorium anerkennen zu wollen – ein Tabubruch, der in Armenien für Proteste sorgte. Im Gegenzug verlangte er einen Mechanismus zur Sicherung der Rechte der armenischen Bevölkerung.

Massenflucht aus Bergkarabach befürchtet

Wie dieser Mechanismus aussehen könnte und wer ihn kontrolliert, ist unklar. Aserbaidschans autoritär regierender Präsident Alijew wolle sein Land als „starken, stabilen und modernen Staat präsentieren“. „Man spielt darauf an, eine Demokratie zu sein, trotz massivster Verletzungen von Demokratie und Rechtsstaat“, so Meißner.

Karte von Bergkarabach
Grafik: APA/ORF; Quelle: APA

Zu diesem „Image“ würde es nicht passen, die armenische Bevölkerung zu vertreiben. „Es besteht aber das Risiko, dass die Bevölkerung flieht, weil sie nicht darauf vertraut, dass Aserbaidschan gewillt ist, Minderheitenrechte durchzusetzen.“

Bakus „Schaukelpolitik“

Die EU hat großes Interesse an einem guten Verhältnis zu Aserbaidschan. Seit Moskaus Überfall auf die Ukraine will Brüssel seine Abhängigkeit von russischen Rohstoffen verringern, Erdöl und Erdgas aus dem Kaukasus-Staat spielen dabei eine bedeutende Rolle.

Im Vorjahr unterzeichnete Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Baku einen Vertrag über die Verdoppelung der Liefermengen aserbaidschanischen Erdgases an die Union. Eriwan zweifle stark daran, dass die EU in dieser Lage Verstöße gegen die Minderheitenrechte der armenischen Bevölkerung in Bergkarabach ahnden könnte, sagt Meißner.

Der Ressourcenreichtum bildet laut Meißner die Basis für die erfolgreiche „Schaukelpolitik“, die Baku seit mittlerweile fast zwei Jahrzehnten verfolge. Die Rohstoffe machten das kleine Land am Kaspischen Meer für internationale Akteure – etwa die EU und die Türkei – interessant.

„Baku hat sich damit gewissermaßen frei geschaukelt vom Einfluss Moskaus“, so Meißner. Zudem sei es der aserbaidschanischen Führung in den Jahren vor dem Krieg 2020 gelungen, Russland stärker auf seine Seite zu ziehen. „Armenien hatte lange Jahre die alleinige Unterstützung Russlands“, so Meißner, „das war seit den 1990ern der maßgebliche sicherheitspolitische Pfeiler für den Fortbestand der Republik Arzach“.

Russlands Interesse an eingefrorenen Konflikten

An eine baldige Verwandlungslösung glaubt Meißner nicht. Ein Faktor ist das Interesse Russlands, den Konflikt am Laufen zu halten. Moskaus Politik im postsowjetischen Raum sei es immer schon gewesen, „Territorialkonflikte zu schaffen und einzufrieren, um sicherheitspolitisch und geopolitisch die Kontrolle zu behalten“.

Schauplätze solcher Konflikte seien etwa Transnistrien (in Moldawien), Südossetien und Abchasien (beides in Georgien). Über die Stationierung russischer „Friedenstruppen“ erlange Moskau in diesen Staaten einen „innenpolitischen und sicherheitspolitischen Hebel“, der etwa dann betätigt werde, wenn sich eine Regierung zu sehr dem Westen zuwende.