Libanesische Banknoten bei einem Händler in Beirut
Reuters/Mohamed Azakir
Krise im Libanon

Die Straße macht den Wechselkurs

Für die Menschen im Libanon hat sich das Leben in den letzten Jahren enorm verändert – und das zum Schlechteren: Denn das Geld im Land löste sich praktisch in Luft auf. Seit Ende 2019 verlor die Währung, das libanesische Pfund, weit über 90 Prozent ihres Wertes. Bargeld ist auf den Straßen des Landes hoch präsent, denn schon für einen kleinen Betrag benötigt man viele Scheine. Zusätzlich jongliert das Land zwischen mehreren Wechselkursen – der im Alltag wichtigste bildet sich auf der Straße.

In den Zeiten vor dem schweren Niedergang des Landes war das libanesische Pfund fest an den Dollar gebunden. Aus diesem Grund waren für die Zentralbank ausreichend Devisen zur Deckung des Pfund nötig. Mit hohen Zinsen lockten die Banken Sparer, Dollar einzuzahlen. Für die Zinsen kam die Zentralbank auf – ihre Schulden stiegen. Ausländische Geldgeber verloren Vertrauen, das Finanzsystem kollabierte. Die Leidtragenden waren Menschen ohne Dollar-Reserven oder sonstige Devisen im Ausland – also die allermeisten im Libanon.

Innerhalb kürzester Zeit entstand eine beispiellose soziale Kluft zwischen jenen, die Zugang zu US-Dollars hatten, und jenen, die nicht über eine solches Sicherheitsnetz verfügten. Selbst Geldreserven auf einem Konto waren für viele Libanesen und Libanesinnen kein Ausweg – denn die Zentralbank schränkte die Geldausgabe drastisch ein. Für die Realität auf den Straßen des Landes heißt das bis heute: Menschentrauben vor Bankomaten und Wut, weil kein Geld rauskommt.

Akte der Verzweiflung

Immer wieder kommt es zu Attacken auf Banken, Zentralbank und Bankenviertel in der Hauptstadt Beirut sind abgeriegelt. Auch kam es zu Banküberfällen, der Fall eines Mannes, der mit Benzinkanister in der Hand in der Bank umgerechnet 25.000 US-Dollar von seinem eigenen Konto für die Krebsbehandlung seiner Frau freipresste, ging um die Welt. Erst vor Kurzem wurde er einmal mehr von der „New York Times“ porträtiert, sowohl seine Frau als auch sein Vater sind mittlerweile an Krebs verstorben.

Straßenszene in Beirut
ORF/Valentin Simettinger
Das Bankenviertel Beiruts ist mit Checkpoints nach außen hin abgeriegelt – die Banken sind geschlossen und mit Sperren gesichert

Offizieller Kurs ohne Bedeutung

Viele Libanesinnen und Libanesen feierten den Mann als Helden, gingen aber selbst freilich nicht so weit, einen Banküberfall zu verüben, sondern bleiben in ihrer Armut still zurück. Praktisch alles im Land wird in bar abgewickelt – zugrunde liegt hier ein durchaus komplexes System, es gibt zumindest drei Wechselkurse. Der offizielle Wechselkurs zahlt derzeit 15.000 Pfund für einen Dollar, der Wert wurde vor wenigen Monaten erhöht, lange waren es 1.500 Pfund – dieser Kurs war 1997 eingeführt worden und hatte noch weniger mit der Realität zu tun als der derzeitige.

Allein innerhalb der vergangenen vier Jahre machte die Entwertung die Landeswährung praktisch zunichte. Waren vor der Krise im Jahr 2019 150.000 Pfund noch rund 100 US-Dollar wert, so bekommt man für dieselbe Summe heute gemäß offiziellem Kurs nur noch knapp 1,50 US-Dollar.

Libanesisches Bargeld
ORF/Valentin Simettinger
Der Wert des libanesischen Pfund unterliegt mehreren Wechselkursen

Neben dem offiziellen Wechselkurs gibt es den Sayrafa-Kurs, er wurde von der Zentralbank im Mai 2021 zur Kontrolle von Devisentransaktionen und zur Stabilisierung von Schwankungen auf dem Schwarzmarkt eingerichtet – er soll aber bald abgestellt werden. Behörden und internationale Institutionen kritisierten Sayrafa wegen mangelnder Transparenz und der dadurch geschaffenen Möglichkeiten für die Ausnutzung von Kursunterschieden. Derzeit wird ein US-Dollar mit 85.500 Pfund gehandelt.

Pfund in Stapeln

Für das tägliche Leben am bedeutsamsten ist jener Kurs, der auf dem Parallelmarkt – also dem Schwarzmarkt auf der Straße – gehandelt wird. Zurzeit entspricht ein US-Dollar gut 90.000 Pfund. Doch fiel das Pfund innerhalb des letzten halben Jahres auf der Straße stark – Ende des Vorjahres waren für einen Dollar knapp über 40.000 Pfund gezahlt worden, die Währung verliert jeden Tag an Wert. Der Geldwechsel erfolgt tatsächlich auf der Straße bzw. in Wechselstuben. Bereits geringere Dollar-Beträge entsprechen einem Stapel Pfund.

Libanesische Banknoten bei einem Händler in Beirut
Reuters/Mohamed Azakir
In den Wechselstuben sind Geldzählautomaten unerlässlich

Spekulationen als Antrieb

Mit dem Verfall des offiziellen Kurses und dem Anstieg des Parallelmarktkurses hatten die Behörden versucht einzugreifen. Gegen Wechselstuben, die sich nicht an die von der Zentralbank festgelegten Kurse hielten, wurde mit Härte vorgegangen. Infolgedessen entstanden teilweise große Chatgruppen zur Suche nach Dollar-Verkäufern und -Käufern und zur Überwachung der Marktdynamik. Ein informelles Netzwerk von Devisenhändlern spielt also eine entscheidende Rolle in der Wirtschaft des Landes.

Angetrieben wird der Markt im Wesentlichen durch Spekulationen. Mit gelenkt werden sie von Personen, die große Kauf- und Verkaufstransaktionen durchführen. Der Verlauf des Sayrafa-Kurses, obwohl – oder gerade weil – dieser im Vergleich zum Parallelmarktkurs schlechter ist, steht in direktem Zusammenhang mit dem Verdienstpotenzial der Geldwechsler. Die Sayrafa-Schwankungen hängen wiederum vom täglichen Handelsvolumen ab, das die Zentralbank zwischen Banken und Wechselinstituten bzw. Einzelpersonen zulässt.

Geldmachen mit System

Wie jene, die über Geldmittel verfügen, wiederum Geld aus dem System bekommen, beschrieb Mohammad Hammoud, Geldwechsler in Beirut, vor Kurzem gegenüber „L’Orient-Le Jour“, der größten französischsprachigen Zeitung im Libanon. Alles beginne bei der Absicht der Zentralbank, dem Markt frische Dollar zuzuführen, um die Schwankungen in den Griff zu bekommen. Nach der Einzahlung wird Einlegern die Möglichkeit gegeben, US-Dollar von ihren Pfund-Konten zu beziehen – zum Sayrafa-Kurs.

Weil dieser Kurs ja stets unter dem Parallelmarktkurs liegt, erhalten Spekulanten und Händler mehr Dollar für ihre libanesische Lira, als wenn sie diese zum Parallelmarktkurs umtauschen würden. Gegenüber „L’Orient-Le Jour“ wies der Branchenkenner darauf hin, dass eine Summe über 10.000 Dollar verfügbar sein müsse, um in diesem System der verschiedenen Wechselkurse einen Gewinn von etwa 500 US-Dollar erzielen zu können.

Gewinne in Milliardenhöhe

Der angekündigte Stopp von Sayrafa mache das aber derzeit bereits sehr riskant, gab der Bracheninsider an. Laut Weltbank haben die verschiedenen Akteure – darunter Banken und unabhängige Börsen – bis dato mit dem Unterschied zwischen Sayrafa-Kurs und Parallelmarktkurs Arbitragegewinne (also Gewinne unter Ausnutzung von Kursunterschieden) in der Höhe von fast 2,5 Mrd. US-Dollar erzielt.

Der Geldwechsler erklärte es so: „Es ist dem Aktienmarkt sehr ähnlich – bei beiden Prozessen geht es darum, Kursschwankungen auszunutzen, um Gewinne zu erwirtschaften“, wurde Hammoud von „L’Orient-Le Jour“ zitiert. „Wenn ich zum Beispiel darauf spekuliere, dass der Marktpreis steigen wird, kaufe ich mehr Dollar, und wenn ich einen Preisrückgang erwarte, verkaufe ich mehr Dollar“, schilderte Hammoud.

Faktor Angst

Doch sei der Markt von Angst getrieben, die von den negativen Nachrichten und Unsicherheit im Libanon ausgeht, etwa über ein politisches Patt, einen Bankenstreik oder eine große Explosion wie jener im Hafen von Beirut, die vor drei Jahren mehrere Stadtteile in Beirut dem Erdboden gleichmachte, 190 Menschen das Leben kostete und viele tausend weitere die Existenz. All das wirkt sich direkt auf das Verhalten auf dem Devisenmarkt aus.

Straßenszene in Beirut bei Nacht
ORF/Valentin Simettinger
Straßenszene in Beirut: Strom wird im Land rationiert und zu fixen Zeiten abgedreht. Ganze Straßenzüge sind dann finster.

Angst kann zu Herdenverhalten führen, bei dem etwa Pfund-Inhaber Panikkäufe tätigen, was die Volatilität der Währung in die Höhe treiben könnte. „Manche Leute haben einen Teil ihres Geldes in Pfund und erschrecken, wenn sie merken, dass dieser an Wert verliert – und wollen sofort Dollar kaufen“, so Hammoud. „Sie werden zu jedem Kurs kaufen – was dann aber die Dollar-Nachfrage in die Höhe treibt und damit den Wechselkurs weiter erhöht.“ Generell ist das Land auf Geld aus dem Ausland angewiesen.

Korruption und Machtkämpfe

Der Libanon ist zu einem Land mit Bargeldwirtschaft geworden – der Bankensektor liegt brach, das gesamte Geld kommt dem privaten Sektor zu. Der Staat ist de facto zahlungsunfähig. Verantwortlich für die katastrophale Lage sind vielfach korrupte Eliten, die nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind. Gegen den unlängst aus dem Amt geschiedenen, langjährigen Chef der Zentralbank, Riad Salamah, wird in mehreren europäischen Ländern wegen Korruption und Geldwäsche ermittelt – er weist die Vorwürfe zurück.

Grafiti in Beirut
ORF/Valentin Simettinger
Wandzeichnungen sind in Beirut sehr präsent – viele sind ein Ausdruck der schlechten Lage im Land

Und die Politik? Seit Oktober 2022 wird das Land von Ministerpräsident Najib Mikati übergangsmäßig geleitet. Grund dafür ist die bereits zwölfmal gescheiterte Präsidentenwahl infolge der abgelaufenen Wahlperiode von Ex-Präsident Michel Aoun. Seither fehlt dem Staat nicht nur ein offizielles Staatsoberhaupt, sondern auch eine vollständig handlungsfähige Regierung. Der Grund: Machtkämpfe innerhalb der politischen Elite. Den Preis dafür zahlen jene, denen ihr ganzes Geld genommen wurde.