Justitia-Statue im Justizpalast Wien
ORF/Georg Hummer
„Systemfehler“

Wenn alle dem Täter glauben

„Selber schuld!“ – wenn Frauen über sexuelle Belästigung und gewalttätige Übergriffe offen reden, bekommen sie das häufig als erste Reaktion. Beispiele sind die aktuellen Vorwürfe gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann, aber auch jede Form der häuslichen Gewalt. Diese Praxis nennt man „Victim Blaming“, Täter-Opfer-Umkehr. Sie reicht von der Gesellschaft bis tief hinein in jeden Gerichtssaal. Expertinnen orten einen „Systemfehler“, gegen den selbst Gesetze machtlos wirken.

Denn in Strafprozessen sei „Victim Blaming“ sogar gängige Praxis, erklärt Sonja Aziz, Rechtsanwältin und Expertin für Opferschutz, gegenüber ORF.at. „Ein Beschuldigter hat nicht nur das Recht zu schweigen, sondern darf Dinge auch abstreiten und anders darstellen.“ Freilich ist das ein Prinzip des Rechtsstaats.

Doch komme es häufig vor, so Aziz, dass einer Frau, die von Gewalt betroffen ist, im Zuge eines Prozesses vorgeworfen werde, sie sei psychisch krank, beschuldige einen Mann bloß, weil sie sich Vorteile im Scheidungsverfahren verschaffen oder persönlich bereichern wolle, und so weiter.

Durch „Victim Blaming“ rückt Tat in Hintergrund

Somit stellt sich rasch auch die moralische Frage der Schuld, die sich Betroffene als Marginalisierte aus Angst vor gesellschaftlicher Verurteilung häufig selbst geben, insbesondere kurz nach einer Tat. Ergänzend besteht der Zweifel vieler Betroffener: „Das glaubt mir doch eh niemand.“

Sonja Aziz (juristische Prozessbegleiterin, Schwerpunkt Opferschutz)
APA/Helmut Fohringer
Aziz ist Opferanwältin und war auch Mitglied der Taskforce Strafrecht

Die Struktur der Täter-Opfer-Umkehr habe zur Folge, dass sich schnell alles nur mehr um das Opfer drehe und der mutmaßliche Täter bzw. die Tat selbst in den Hintergrund rücken würden. Dann werde etwa vor Gericht gefragt, warum eine betroffene Frau keine Fotos ihrer Misshandlung gemacht habe, nicht beim Arzt gewesen sei, nicht früher Anzeige erstattet habe oder warum sie auf Urlaubsbildern lächle, so Aziz.

„In der Gewaltspirale gibt es Ambivalenzen“

„Schöne Momente“, wie Urlaubsfotos, Instagram-Storys usw., die vor Gericht vorgelegt werden können, seien „ein gefundenes Fressen für jede Verteidigung“. So würden vor Gericht Sätze fallen wie: „Das ist ja völlig unglaubwürdig.“ „Nein, ist es nicht“, so Aziz zu ORF.at. „Es ist sogar total typisch.“ Das Problem sei vielmehr, dass die Justiz kein Wissen über die Dynamik von Gewalt habe. „Das ist ein Systemfehler.“

„In der Gewaltspirale gibt es eben Ambivalenzen und auch schöne Phasen“, erklärt Aziz. „Dieses Wissen ist in der Justiz nicht verankert. Es wird nicht gelehrt – weder im Jusstudium noch in der vierjährigen Ausbildung zur Richterin oder Staatsanwältin.“ Es gebe lediglich freiwillige Fortbildungen bzw. Wahlfachkörbe im Jusstudium – etwa „Legal Gender Studies“.

Grafik zur Gewaltspirale
ORF/Sozialministerium

Kritik an Taskforce Strafrecht

Aziz sowie viele weitere österreichische Opferschutzanwältinnen und -anwälte forderten in der Vergangenheit bereits häufig eine Reformierung der Lehre und verpflichtende Bildung für angehende Juristinnen und Juristen zum Thema häusliche Gewalt, etwa auch im Rahmen der 2018 initiierten Taskforce Strafrecht, deren Vorsitz Karoline Edtstadler (ÖVP) als Staatssekretärin im Innenministerium innehatte.

„Es ist nichts herausgekommen“, fasste Aziz im Gespräch mit ORF.at die Taskforce zusammen. „Keiner unserer unzähligen Vorschläge ist aufgegriffen worden.“ Hingegen kam es zu einer Strafverschärfung. Aziz: „Obwohl auf Mord bereits die höchste Freiheitsstrafe besteht, häufen sich immer noch Femizide und Gewalttaten gegen Frauen, wie man sieht.“

Auch Windhager fordert „Kulturwandel“

Dass es bei Gewalt gegen Frauen um mehr gehe als um Strafen, meint auch Medienrechtsanwältin Maria Windhager. „Für mich ist das Strafrecht sekundär“, so Windhager im Zuge der Lindemann-Recherchen des ORF. „Es geht ganz klar um einen Kulturwandel in der öffentlichen Debatte, dass wenn betroffene Frauen Vorfälle schildern, das absolut ernst genommen wird.“

Anwältin Maria Windhager
APA/Hans Punz
Medienanwältin Windhager weiß, wie herausfordernd das mediale Rampenlicht für Betroffene sein kann

Es müsse eine klare Positionierung in der Gesellschaft geben, dass Gewalt und Machtmissbrauch durch Männer nicht in Ordnung sei. „Wenn ich auf Partys gehe, selbst wenn ich in ein Hotelzimmer gehe, heißt das nicht, dass mit mir alles gemacht werden kann und dass ich nicht mehr Nein sagen kann“, so Windhager.

Dass das Problem dem Patriarchat geschuldet sei, davon zeigt sich Opferschutzanwältin Aziz überzeugt. So seien etwa in der Causa Lindemann die meisten Fans dem Rammstein-Sänger sofort mit Täter-Opfer-Umkehr auf Social Media in Kommentaren zur Hilfe geeilt. Im Falle der weiblichen US-Sängerin Lizzo aber, der vor Kurzem ebenfalls Machtmissbrauch im Zuge von Konzerten vorgeworfen wurde, hätten sich Fans vor allem besorgt und enttäuscht von ihrem Star gezeigt, wie die Opferschutzanwältin gegenüber ORF.at zu bedenken gibt.

Rechtliche Beratung als Schlüssel

Ob Gewalt in häuslichem oder öffentlich breiterem Kontext – die Nachweisbarkeit ist häufig das Problem. „Jede Betroffene, die sich traut, ihre Geschichte zu erzählen, braucht nicht nur sehr viel Mut, sondern muss auch wahnsinnig gut rechtlich gebrieft sein“, so Aziz.

Zwar sei die Aussage „Ich habe das so erlebt“ schon ein Beweis, doch stelle sich immer die Frage der Glaubwürdigkeit, so auch Windhager im Gespräch mit dem ORF. Daher brauche man als Anwältin einer Betroffenen möglichst viele Indizien und Zusatzbeweise, die eine Aussage stärken. „Deswegen schauen wir in der juristischen Beratung sehr genau darauf, wie man einen Vorfall einbetten kann“, so Windhager.

Rechtsanwältin Aziz bringt ein Beispiel: „Viele wissen gar nicht, dass es ein Beweis ist, wenn sie sich kurz nach einer Tat an eine Freundin wenden.“ Wenn es etwa SMS-Konversationen oder ähnliches gegeben habe, könne das in einem Verfahren vorgelegt werden. Auch können beispielsweise Telefonate der Frauen-Helpline auf Wunsch der Betroffenen als Beweismittel ausgehoben werden.

„Jeder Fall stärkt wieder andere“

Opferanwältin Aziz rät Betroffenen von sexueller Gewalt immer, sich an niederschwellige juristische Beratungsstellen zu wenden, etwa an die Vertrauensstelle vera*, bei der Betroffene aus dem Bereich Kultur und Sport juristische Beratung kostenlos erhalten.

Ob es zu einer Anzeige kommt, bleibt dabei immer der Betroffenen selbst überlassen. Die strafrechtliche Verfolgung eines mutmaßlichen Täters sei häufig gar nicht das Ziel, so Anwältin Windhager: „Sondern es geht darum, dass es einen gesellschaftlichen Konsens über Grenzen gibt, die einfach zu respektieren sind.“ Dazu hält sie fest: „Jeder Fall, der an die Öffentlichkeit kommt, stärkt wieder andere betroffene Frauen.“