Dass Themen wie Gendern, Normalität und aktuell die Verankerung von Bargeld in der Verfassung nicht nur von der FPÖ, sondern auch der ÖVP politisch derart bespielt werden, gehe weit über einen Sommerwahlkampf hinaus, so Stainer-Hämmerle gegenüber ORF.at. Die Parteien würden sich bereits für die Nationalrats- und EU-Wahlen 2024 in Stellung bringen, inhaltliche Themen vorgeben und Zielgruppen ansprechen. Der „Dauerwahlkampf“ werde Wählerinnen und Wähler wohl noch ein Jahr lang begleiten.
Auffällig sei, dass derzeit jeder für sich kämpfe. ÖVP und Grüne würden etwa beim Thema Pensionssplitting offen zeigen, dass „die Luft draußen“ sei, offenbar könne man nicht mehr miteinander. Die „Kanzlerrede“ im Frühjahr sei ein „feindlicher Akt“ gewesen, der den grünen Koalitionspartner vor den Kopf gestoßen habe, etwa in puncto Klimaschutz. Strategisch würde sich das letztlich für beide nicht gut auswirken: Bei der Wählerschaft entstünde so der Eindruck, die Regierungsparteien würden streiten, anstatt Lösungen zu präsentieren.
„Keine Koalition, die 50 Prozent erreicht“
Diese Dynamik betreffe aber alle Parteien. „Wenn man sich jetzt die Abgrenzungen anschaut, dann kann eigentlich niemand mehr mit niemandem. Da grenzt sich sogar NEOS gegenüber den Grünen ab.“ So, wie sich die Parteien derzeit positionieren, wenn es um Personen, aber auch um Inhalte wie Vermögenssteuer gehe, sieht die Politologin „keine Koalition, die 50 Prozent erreicht“.
Diese Entwicklung sei als durchaus beunruhigend einzustufen und erinnere an Staaten wie Italien, in denen ständig gewählt werde. Lange seien in Österreich die Große Koalition unter SPÖ und ÖVP bzw. Alleinregierungen „das logische Modell“ gewesen. Je mehr Parteien es gebe, desto mehr Blockbildungen seien die Folge – in Österreich wolle derzeit aber jeder die Mitte besetzen.
Strategiewechsel bei ÖVP
Gleichzeitig ortet Stainer-Hämmerle einen Kommunikationswechsel bei der ÖVP. Hatte die Partei im Frühjahr unter Bundeskanzler Karl Nehammer noch auf „Hand ausstrecken“ und „Gräben zuschütten“ gesetzt und als Kanzlerpartei zum Dialog eingeladen, hätten wohl schlechtere Umfragewerte zu einer neuen Ausrichtung geführt. „Es ist natürlich ein Strategiewechsel – weg von einer Kanzlerpartei hin zu einer Wahlkampfpartei und weg von der jetzigen Koalition hin zu einer Koalition, die noch nicht bekannt ist.“
Die aktuelle Besetzung des Themas Bargeld durch die ÖVP und der Vorstoß, es als Zahlungsmittel in der Verfassung zu verankern, wertet Stainer-Hämmerle als „Versuch, der FPÖ Stimmen wegzunehmen und Themen zu besetzen, die sie bisher immer besetzt hat“. Sie sieht darin vor allem eine „strategische Positionierung“.
Interessant sei allerdings die weitere Vorgehensweise: Für eine Verfassungsänderung ist eine Zweidrittelmehrheit notwendig und somit die Zustimmung der Opposition. Verweigere die FPÖ, die den Vorstoß der ÖVP bereits als „Ideendiebstahl“ bezeichnete, da sie das Thema seit Jahren bespielt, die Zustimmung, sei die ÖVP im Vorteil – und könne sagen, sie setze damit nur eine lange Forderung der FPÖ um.
„Debatte in FPÖ anzünden“
„Es geht immer darum, wer fordert etwas, und wem wird auch die Umsetzung zugetraut – nämlich vor allem nach der Wahl“, so die Politologin. „Ist (FPÖ-Chef Herbert, Anm.) Kickl wirklich kanzlertauglich – nutzt das was, wenn man seine Forderungen unterstützt, wenn er dann nicht in Verantwortung kommt?“ Oder nutze die Forderung eher Nehammer selbst, der sich damit als Mann der Tat inszeniere?
Dass sich dieser gleichzeitig bereits mehrmals gegen eine Koalition unter Kickl ausgesprochen hat, wertet die Politologin als Versuch, die „mäßige, bürgerliche Mitte“ zu kalmieren, für die eine Koalition mit der FPÖ unter diesen Voraussetzungen eine Grenze überschreiten würde. „Und der Kompromiss bei der ÖVP ist sozusagen Kickl. Da versucht man auch ein bisschen Zwietracht zu sähen innerhalb der Freiheitlichen Partei.“ Eine Partei sei nur erfolgreich, wenn sie geeint auftrete – hier versuche man „eine Debatte anzuzünden“.
Eine bewusste Beschädigung eines einzelnen Gegners als Spitzenkandidat, wie eben Kickl und SPÖ-Chef Andreas Babler, dem marxistische Tendenzen von der ÖVP vorgeworfen werden, werde zudem in dem Bewusstsein vorgenommen, dass eine der Parteien bei der Wahl auf Platz drei landet und somit nicht alle Spitzenkandidaten am Verhandlungstisch sitzen würden.
Zwischen Ablenkung und Populismus
Es gebe eine große Gruppe in der Bevölkerung, die Schwierigkeiten mit Veränderungen hätte und eine „Früher war alles besser“-Mentalität habe, so die Politologin zu den aktuellen Debatten rund um Klimawandel, Genderverbote und den Normalitätsbegriff. „Auf die stürzen sich alle.“ Gleichzeitig sei es gefährlich, wenn Eliten, die Entscheidungen treffen, der Sehnsucht nach einfachen Lösungen nachgeben, denn „Politiker sollten das Notwendige mehrheitsfähig und nicht das Mehrheitsfähige notwendig machen“.
Mit Blick auf die Warnung Van der Bellens, der politische Wettbewerb möge nicht in Populismus ausarten, verweist die Politologin zwar auf den Unterschied zwischen populistisch und populär. So seien Gender- und Bargelddebatten eher als Scheinlösungen zur Ablenkung zu sehen. Gleichzeitig habe die „Normal versus radikal“-Debatte aber etwas Populistisches. „Es geht um Ausgrenzung im Sinne von: Es gibt eine schweigende Mehrheit der Mitte und einen Konsens, dem sich alle unterwerfen müssen – und Nehammer spaziert argumentativ auf diesem Grat entlang.“