Injektionspen des Appetitzüglers Ozempic
AP/David J. Phillip
Allheilmittel?

Appetitzügler auf dem Prüfstand

Appetitzügler wie Ozempic und Wegovy haben die Welt im vergangenen Jahr im Sturm erobert. Doch der Wirkbereich des Inhaltsstoffes Semaglutid, der auch bei Diabetes Typ 2 eingesetzt wird, könnte einigen Forscherinnen und Forschern zufolge noch viel breiter sein. Unterschiedliche Studien sollen nun zeigen, ob das Arzneimittel unter anderem gegen Demenz, Alkoholsucht und das Polyzystische Ovarialsyndrom (PCOS) helfen kann.

„Wir wissen, dass Arzneimittel aus jener Kategorie bei der Erreichung wichtiger Gesundheitsziele erstaunlich effektiv sind – viele davon können die Länge und Qualität des Lebens beeinflussen“, wird Christian Hendershot, Suchtforscher an der University of North Carolina at Chapel Hill, im „Guardian“ zitiert. „In gewisser Weise hat man das Gefühl, dass das zu gut ist, um wahr zu sein.“

Dass es nun mehrere klinische Studien gibt, die die Wirkweise von Semaglutid untersuchen, ist für den Endokrinologen Harshal Deshmukh (University of Hull) nicht überraschend. Übergewicht sei ein wesentlicher Risikofaktor für eine Vielzahl an Folgeerkrankungen wie Fettleber, Krebs, Demenz und Herzerkrankungen, sagte er der britischen Tageszeitung.

Diätspritze senkt Risiko für Herzkrankheiten um 20 Prozent

Die Liste der möglichen Einsatzgebiete ist lang: Wegovy-Hersteller Novo Nordisk verwies Anfang August etwa auf neue Studienergebnisse, denen zufolge die Abnehmspritze bei übergewichtigen Menschen das Risiko eines schwerwiegenden kardiovaskulären Ereignisses um 20 Prozent reduziere. An der Studie nahmen rund 17.600 Erwachsene über 45 Jahren, die übergewichtig oder fettleibig sind und an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung leiden, teil.

Die Probanden und Probandinnen, die nicht unter Diabetes litten, erhielten einmal wöchentlich eine Dosis von 2,4 Milligramm des Wegovy-Wirkstoffs Semaglutid. Die Untersuchung lief über einen Zeitraum von fünf Jahren. Als schwerwiegende kardiovaskuläre Ereignisse wurden kardiovaskulärer Tod sowie nicht tödliche Herzinfarkte und Schlaganfälle definiert.

Injektionspens des Appetitzüglers Wegovy
Reuters/Jim Vondruska
Die Diätspritze Wegovy senkt einer Studie zufolge das Risiko von Schlaganfällen und Herzinfarkten bei übergewichtigen Menschen

Mittel gegen PCOS und Gebrechlichkeit im Alter?

Fachleute hoffen, dass der Wirkstoff auch gegen PCOS helfen könnte. Polyzystische Eierstöcke sind eine der Hauptursachen für ungewollte Kinderlosigkeit junger Frauen. Charakteristisch für PCOS sind vergrößerte Eierstöcke und ein Anstieg männlicher Geschlechtshormone. Neben dem oftmals unerfüllten Kinderwunsch der Patientinnen gelten erhöhte Risiken der Patientinnen für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes Typ 2 als belegt.

Eine Gewichtsreduktion sei bei der Behandlung von PCOS wesentlich, sagte Deshmukh. Der Forscher führt derzeit eine Studie durch, die die Wirkung von Semaglutid auf das Gewicht, die Reduktion männlicher Geschlechtshormone und eine verbesserte Lebensqualität von an PCOS leidenden Frauen untersucht.

Doch da endet das Potenzial des Wirkstoffs womöglich noch nicht. Eine Studie der University of Texas prüft, ob Semaglutid Vorteile für das Altern bringen könnte. Fettleibigkeit und Insulinresistenz gehen bei älteren Erwachsenen häufig mit Gebrechlichkeit, Verlust von Muskelmasse und Kraft einher, sagte Forscherin Tiffany Cortes. Ihr zufolge bestehe die Hoffnung, dass der Appetitzüglerwirkstoff helfen könnte, die körperliche Leistungsfähigkeit älterer Menschen zu erhöhen.

Studien zu Kopfschmerzen und Alkoholsucht

Dass Abnehmmittel auch gegen neurologische Komplikationen wirken dürften, zeigte jüngst eine im „Journal of Headache and Pain“ erschienene Pilotstudie der MedUni Wien. Adipositasbedingte Kopfschmerzattacken reduzierten sich demnach durch eine Behandlung mit Wirkstoffen wie Semaglutid und Liraglutid stark. Vor allem bei schwer übergewichtigen Frauen im gebärfähigen Alter kann es zu einer Erhöhung des Drucks im Schädel mit häufigen Kopfschmerzattacken und Schädigungen des Sehvermögens kommen.

Der Forscher Hendershot will wiederum der Frage auf den Grund gehen, wie sich blutzuckersenkende Wirkstoffe – bekannt als GLP-1-Rezeptor-Agonisten (auch GLP-1-Analoga) – auf Suchtkranke auswirken. Wirkstoffe wie Semaglutid ahmen die Wirkung des körpereigenen Hormons GLP-1 nach. „Es wird im Gehirn sozusagen der Impuls gesetzt, dass man satt sei“, sagte der Präsident der Deutschen Adipositas-Gesellschaft, Jens Aberle.

Klinischen Studien zufolge reduziere der Wirkstoff die Energieaufnahme und steigere das Sättigungs- und Völlegefühl, heißt es in einem Papier der Europäischen Arzneimittelbehörde (EMA). Hungergefühle würden vermindert, Heißhungerattacken seltener und weniger stark. Ähnlich könnten die Mittel bei Suchterkrankungen wirken: Die Idee, die Wirkung auf Suchtkranke zu untersuchen, kam auf, nachdem Menschen – denen GLP-1-Rezeptor-Agonisten für Diabetes verschrieben worden waren – von einem geringeren Alkoholkonsum berichteten. Hendershot verwies zudem auf Erkenntnisse aus Tierstudien, die auf derartige Effekte schließen lassen.

Demenz im Visier der Forscher

Nicht zuletzt wurden auch Demenzforscherinnen und -forscher auf Antidiabetika wie Semaglutid aufmerksam. Der australische Facharzt für Geriatrie, Paul Yates, sagte dem „Guardian“, dass sich GLP-1-Analoga positiv auf das Gehirn auswirken dürften. „Unsere aktuelle Studie zielt darauf ab (Demenz, Anm.) abzuschwächen“, sagte er – daher würden auch Personen untersucht, die bereits Symptome einer Demenz aufweisen.

Ob GLP-1-Analoga wie Semaglutid und Liraglutid bei der Behandlung von Demenz, PCOS und Suchterkrankungen tatsächlich effektiv und für alle Personengruppen sicher sind, ist derzeit noch unklar. Einige der klinischen Studien stehen erst in den Startlöchern – auf belastbare Forschungsergebnisse muss daher gewartet werden.

Fachleute mahnen zu Vorsicht

Fachleute mahnen unterdessen vor einer leichtfertigen Einnahme. Die häufigsten – moderaten – Nebenwirkungen sind bisherigen Studien zufolge gastrointestinale Probleme, zum Beispiel Übelkeit, Erbrechen und Durchfall. Hinzu kommt offenbar auch ein potenziell erhöhtes Risiko für Netzhautschäden bei Diabetikern. Wegovy nennt auf seiner Website auch noch mögliche Nebenwirkungen wie unter anderem Entzündungen der Bauchspeicheldrüse, Gallensteine, ein Risiko für niedrigen Blutzucker und Sehstörungen bei Typ-2-Diabetikern.

Sowohl die EMA als auch die entsprechende US-Behörde FDA erwähnen auf dem Beipackzettel von Wegovy, dass Semaglutid bei Nagetieren Schilddrüsentumore verursacht. Die Auswirkungen auf Menschen seien unbekannt. Die FDA rät von der Einnahme von Wegovy ab, wenn bei Patienten in der Familie Schilddrüsenkrebs aufgetreten ist.

EMA überprüft Abnehmmittel auf mögliche Risiken

Bedenken gibt es aber auch, was den Einsatz der Abnehmmittel bei psychisch kranken Menschen betrifft. Der Sicherheitsausschuss der EMA begann im Juli eine Überprüfung der Arzneimittel Ozempic und Wegovy (Wirkstoff Semaglutid) sowie Saxenda (Wirkstoff Liraglutid). Kontrolliert würden Daten über das Risiko von Suizidgedanken und Gedanken an Selbstverletzung.

Die Überprüfung der GLP-1-Rezeptor-Agonisten werde voraussichtlich im November abgeschlossen, hieß es. Sie sei von der isländischen Arzneimittelbehörde veranlasst worden, nachdem Berichte über Suizidgedanken und Selbstverletzungen bei Patientinnen und Patienten, die Liraglutid und Semaglutid einnahmen, eingegangen waren.

In den USA und Kanada, wo sich die Abnehmmittel einer regen Nachfrage erfreuen, warnten Anästhesistinnen und Anästhesisten zudem vor gefährlichen Komplikationen im Zusammenhang mit medizinischen Eingriffen. Konkret wurde beobachtet, dass sedierte Patientinnen und Patienten beim Einsatz von Abnehmmitteln zunehmend Nahrung oder Flüssigkeiten inhalierten, weil deren Mägen noch voll waren. Dabei wurden Standardempfehlungen, wonach sechs bis acht Stunden vor der OP nicht gegessen werden soll, eingehalten. Im schlimmsten Fall könnte das zu einer Lungeninfektion oder gar dem Tod führen, warnte der US-Anästhesist Ion Hobai.

Hype um Appetitzügler hält an

Die Abnehmspritze Wegovy, die Mitte 2021 in den USA und kürzlich auch in Deutschland auf den Markt kam, hat dem dänischen Pharmakonzern Novo Nordisk zu Rekordumsätzen verholfen. Der Markt für Adipositasmedikamente wächst derzeit rasant. In Österreich ist Wegovy nicht erhältlich, für Ozempic ist eine chefärztliche Verschreibung nötig.