Menschen auf einer Fußgängerbrücke
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Bizarre Geschenke

Steueranreize in Japan aus den Fugen geraten

„Furusato Nozei“ nennt sich das Steuerprogramm in Japan, das den dünn besiedelten Gebieten des Landes zusätzliche Einnahmen verschaffen soll. Das System ermöglicht es den Japanern und Japanerinnen, einen Teil ihrer Steuern an eine beliebige Gemeinde außerhalb ihres Wohnsitzes abzuführen. Im Gegenzug erhalten sie von dort ein Geschenk oder eine andere Gefälligkeit. Doch das „Hometown Tax“-System hat seine Tücken.

Im vergangenen Jahr haben fast neun Millionen Steuerzahler und Steuerzahlerinnen des 125-Millionen-Einwohner-Landes an dem System teilgenommen – so viele wie nie zuvor seit der Einführung im Jahr 2008. Das Programm wurde ins Leben gerufen, um ländlichen Gebieten zu helfen, deren Steuereinnahmen durch den Bevölkerungsrückgang in Japan und die Abwanderung in die Großstädte immer weiter zurückgehen.

Die Idee dahinter war, dass Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner ihre einstigen Heimatregionen unterstützen und dafür eine Gegenleistung erhalten. Die Palette ist immens breit: Sie reicht von lokalen Spezialitäten und Produkten aus der Region – etwa Meeresfrüchten, Obst und Gemüse – bis zu einem Jahresvorrat an Toilettenpapier, Testfahrten mit einem Porsche, Geschenkkarten für Hotels und Restaurants sowie einer eintägigen Amtszeit als Bürgermeister.

Meeresfrüchte in japanischem Markt
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Meeresfrüchte stehen als Gegenleistung für Spenden hoch im Kurs

Wettstreit der Kommunen

Ein gewisser Teil der Spenden ist steuerlich absetzbar, um die genaue Höhe zu errechnen, stehen mannigfach Onlinerechner zur Verfügung. „Furusato Nozei“ wurde so zu einer populären Möglichkeit, die Steuerlast zu senken. Im vergangenen Finanzjahr (März 2022 bis März 2023) beliefen sich die Spenden im Rahmen dieses Systems auf fast eine Billion Yen (rund 6,3 Mrd. Euro).

Die solcherart beglückten Kommunen wiederum dürfen offiziell 30 Prozent der zusätzlich lukrierten Steuern für Geschenke an die Spenderinnen und Spender ausgeben. Bei den Plänen zum Programm wurde aber offenbar ein wesentlicher Teil übersehen – der nämlich, dass es zu einem ungesunden Wettstreit um Gelder führen könnte, wie das „Wall Street Journal“ („WSJ“) jüngst berichtete.

Toilettenpapier in Supermarkt in Tokyo
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Auch im Angebot: Dutzende Packungen Toilettenpapier

Zu Onlineshopping verkommen

Denn die ursprüngliche Idee, dass das Geld den Heimatregionen der Steuerzahler zugutekommen sollte, hält der Realität längst nicht mehr Stand. Viele Menschen in Japan setzen das Programm inzwischen mit Onlineshopping gleich – auf über einem Dutzend Plattformen kann nach den besten Geschenkoptionen gesucht werden, auf Blogs werden die Gaben der Regionen bewertet.

Verbundenheit zu einem bestimmten Ort spielt dabei eine sehr untergeordnete Rolle. Das japanische Innenministerium mahnte unlängst: Das System sei nicht als Shoppingplattform gedacht, würde inzwischen aber so anmuten.

Wie aus einem Bericht des World Economic Forum (WEF) von heuer hervorgeht, waren drei der fünf Orte mit dem höchsten Spendenaufkommen im Jahr 2021 Städte in der Präfektur Hokkaido, Japans zweitgrößter Insel, die für hochwertige Fisch- und Meeresfruchtspezialitäten bekannt ist. Die Stadt Mombetsu in Hokkaido, die landesweit Platz eins einnahm, sammelte etwa 15,3 Mrd. Yen (knapp 100 Mio. Euro) an Spenden.

Freud und Leid

Wo Gewinner, da Verlierer. Der Tokioter Bezirk Setagaya, mit über 900.000 Einwohnerinnen und Einwohnern die bevölkerungsreichste Gemeinde in der Präfektur, trifft es besonders hart. Für das im März 2024 endende Finanzjahr rechnet der Bezirk mit einem Verlust von umgerechnet fast 65 Mio. Euro an Steuereinnahmen, die Jahre davor sah es nicht viel besser aus. Von den 23 Bezirken von Tokio gesamt flossen im Finanzjahr 2021 laut WEF mehr als 377 Mio. Euro an andere Gemeinden ab.

Straßenbahn in Stegaya
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Setagaya widersetzte sich lange dem Belohnungssystem, musste dann aber einlenken

„Dieses System ist ein Fehler“, sagte der Verwaltungschef von Setagaya, Nobuto Hosaka, gegenüber dem „WSJ“. Wenn die Verluste weiter zunehmen, könnte der Bezirk Schwierigkeiten haben, alltägliche Dienstleistungen wie Straßenreparaturen und Müllabfuhr zu finanzieren. Setagaya weigerte sich auch jahrelang, Dankesgeschenke für Steuern zu verteilen. Angesichts des Einnahmeschwunds sah man sich schließlich doch gezwungen mitzumachen. Die Spenden haben sich seitdem verdoppelt.

Ursprungssinn ging verloren

„Es ist nun einmal so, dass die Leute aufgrund der Geschenke entscheiden, wo sie spenden“, sagte Kazuya Misawa, ein leitender Beamter der Hafenstadt Numazu auf der Insel Honshu. „Deshalb haben wir uns überlegt, wie wir uns von den anderen Städten und Gemeinden abheben können.“ Die Antwort: ein kurzer Unterricht im Handwerk des Schweißens, durchgeführt in einem örtlichen Eisenwerk. So ungewöhnlich das Angebot sein mag, nachgefragt wird etwas anderes: 96-Rollen-Pakete mit Toilettenpapier, das in einer örtlichen Fabrik hergestellt wird, zählt dem Beamten zufolge zu den beliebtesten Geschenken.

Das World Economic Forum schloss seinen Bericht zu „Furusato Nozei“ mit den Worten: „Es wird Zeit, dass Japan die Steuereinnahmen wieder ihrem ursprünglichen Sinn entsprechend einsetzt. Und zwar sowohl was die Lösung sozialer Probleme betrifft als auch die Ausgewogenheit der öffentlichen Dienstleistungen und eine nachhaltige Wiederbelebung von Gemeinden.“