Markus Söder (CSU) und Hubert Aiwanger
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Mitten im Wahlkampf

Flugblatt-Affäre lastet auf Bayern-Regierung

Das politische Bayern befindet sich wenige Wochen vor der Landtagswahl am 8. Oktober in Aufruhr. Grund ist der Skandal um ein antisemitisches Flugblatt, der auf Bayerns Vizeministerpräsident Hubert Aiwanger (Freie Wähler) lastet. Was die Causa für den Wahlkampf und die CSU-FW-Regierung bedeutet, ist unklar. An Aiwanger hält Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) vorerst aber fest, wie er am Dienstag sagte.

Den Druck will Söder jedenfalls erhöhen: Der Freie-Wähler-Chef solle einen Katalog mit 25 Fragen schriftlich beantworten, sagte der CSU-Politiker nach Beratungen im Koalitionsausschuss in München. Aiwanger steht wegen eines antisemitischen Flugblatts aus seiner Schulzeit unter Druck, für das er einem Bericht der „Süddeutschen Zeitung“ („SZ“) zufolge seinerzeit zur Verantwortung gezogen wurde.

Aiwanger versicherte am Samstag, er habe das Papier, das in seinem Rucksack gefunden worden war, „nicht verfasst“ und erachte „den Inhalt als ekelhaft und menschenverachtend“. Parallel übernahm sein älterer Bruder Helmut die Verantwortung und erklärte, er habe das Flugblatt angefertigt. Am Montag äußerte Helmut Aiwanger den Verdacht, dass sein Bruder das Flugblatt eingesammelt haben könnte, „um zu deeskalieren“.

Aiwanger hat laut Söders Aussagen vom Dienstag zugesagt, die Fragen zu beantworten. Erst danach könne man den Fall abschließend bewerten, sagte der bayrische Ministerpräsident. Eine Entlassung aus dem Amt des Wirtschaftsministers und stellvertretenden Ministerpräsidenten wäre zum jetzigen Zeitpunkt „ein Übermaß“, so der CSU-Chef. Eine Frist zur Beantwortung der Fragen nannte er nicht. Söders Partei reagierte mit der Sondersitzung auf Druck von Bundesregierung, Opposition und Medien.

Hubert Aiwanger bei Rede
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Ein altes, antisemitisches Flugblatt setzt Freie-Wähler-Chef und Bayerns Vizeministerpräsident Hubert Aiwanger unter Druck

„Aiwangers Flugblatt-Affäre“ und „Söders Dilemma“

Von „Aiwangers Flugblatt-Affäre“, „Söders Dilemma“ und einer „Hexenjagd“ war zuletzt etwa in Berichten und Kommentaren in deutschen Medien wie der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ („FAZ“), der „SZ“ und der „Welt“ zu lesen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) verlangte eine sofortige Aufklärung der Landesregierung und „gegebenenfalls auch politische Konsequenzen“, wie ein Sprecher sagte. Aufklärung forderten zuvor bereits die bayrischen Oppositionsparteien SPD, FDP und Grüne. Die SPD sprach sich noch dazu für Aiwangers Entlassung aus.

„Der Text eines Flugblattes, das auf der damaligen Schule des stellvertretenden bayrischen Ministerpräsidenten zirkulierte und von dessen Bruder erstellt worden sei, ist auch heute nicht minder verwerflich, da er die Millionen Opfer der Schoah auf abscheuliche Weise verunglimpft“, sagte der Präsident des Zentralrats, Josef Schuster, am Sonntag dazu. Das Flugblatt dürfe auch „nicht einfach als Jugendsünde abgetan werden, da es die für unser Land so wichtige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus regelrecht mit Füßen tritt“.

Flugblatt voller Antisemitismus

Worum es in dem Pamphlet ging? Der „SZ“ zufolge rief das Flugblatt zur Teilnahme an einem angeblichen Bundeswettbewerb, bei dem der „größte Vaterlandsverräter“ gesucht werden sollte, auf. Teilnahmeberechtigt sei „jeder, der Deutscher ist und sich auf deutschem Boden aufhält“. Bewerber sollten sich „im Konzentrationslager Dachau zu einem Vorstellungsgespräch“ melden.

„Ein Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz“ wurde da als erster Preis ausgelobt. Weiter zu gewinnen sei „ein lebenslänglicher Aufenthalt im Massengrab (Ort nach Belieben)“ oder „eine Fahrkarte in die ewigen Jagdgründe (Erfüllungsort ebenfalls das Vergnügungsviertel Auschwitz und Nebenlager)“. Das Entsetzen in Deutschland ist groß.

Großes Rätselraten

Offene Fragen gibt es einige: Wurde das Flugblatt tatsächlich von Aiwangers älterem Bruder verfasst? Und wenn ja: Wieso nahm Aiwanger diesen so lange in Schutz? „War Aiwanger in der Sache tatsächlich das Opfer, das bedroht und ‚unter Druck‘ gesetzt wurde, wie er es darstellt?“, will die „TAZ“ wissen. „Soll man wirklich glauben, dass die zwei Brüder den Holocaust so unterschiedlich sahen, dass der eine sich ekelhafteste Sprüche und Pseudowitzchen dazu überlegte, während der andere sich als aufrechter Demokrat mit Schaudern abwandte?“, fragt der „Spiegel“.

Darüber hinaus stellt sich auch unmittelbar die Frage nach den Folgen für den bayrischen Landtagswahlkampf. Was bedeutet die Causa für den Wahlausgang und für Aiwangers Freie Wähler? Kann sich Aiwanger an der Spitze der Partei halten? Und wird es eine eigentlich erwartete Fortsetzung der Koalition aus CSU und Freie Wähler geben?

In Bayern wird am 8. Oktober ein neuer Landtag gewählt – die Briefwahl begann bereits am Montag. Die CSU hatte stets erklärt, die Koalition mit den Freien Wählern nach der Wahl fortsetzen zu wollen. Alle Umfragen hatten bis zuletzt fast keinen Zweifel daran gelassen, dass das auch möglich sein wird – wobei die Freien Wähler zuletzt bei elf bis 14 Prozent und die CSU bei knapp 40 Prozent lagen. Die CSU regiert im Freistaat seit der Wahl 2018 zusammen mit den Freien Wählern.

„Das wird Aiwanger nicht schaden“

„Das wird Aiwanger nicht schaden“, meinte die Politologin Jasmin Riedl von der Universität der Bundeswehr in München zur dpa. Aiwanger habe „eine fast schon eingeschworene Unterstützerschaft“. Diese würde auch „weiter fest zu ihm halten“. Im Raum steht gar, dass Aiwanger gestärkt aus der Causa hervorgehen könnte, weil diese so lange zurückliegt und einige das Hervorkehren der Vorwürfe als unfair empfinden.

Aiwanger war im Juni zuletzt wegen umstrittener Äußerungen auf einer Kundgebung in Erding in die Schlagzeilen geraten. Er hatte dort unter anderem gesagt, dass die schweigende Mehrheit sich die „Demokratie zurückholen“ müsse. Ihm wurde daraufhin Populismus vorgehalten. Aiwanger sieht sich gerne als Vertreter der von ihm so bezeichneten „normalen Bevölkerung“, von Landwirten und Handwerkern. In Bierzelten und bei anderen Auftritten wettert er regelmäßig gegen die Grünen und die „Ampel“-Regierung aus SPD, Grünen und FDP.

„Das ist Söders Problem: Aiwanger kann fast machen, was er will“, sagte Politologin Riedl auch angesichts der bisher eigentlich fixen Koalitionszusage. Eine Koalition mit den Grünen hatte Söder beispielsweise mehrfach ausgeschlossen. Noch denkbarer erscheint in der äußersten Not ein Pakt mit der SPD.

Kommentatorenmeinungen gehen auseinander

Anders die Einschätzung des „FAZ“-Redakteurs Jasper von Altenbockum: „Die Sache könnte Aiwanger sein Amt als bayrischer Wirtschaftsminister kosten. Markus Söder wäre außerdem zuzutrauen, dass er gleich die ganze Koalition kündigt“, schrieb er in einem Kommentar, das vor dem Koalitionsausschuss erschienen war. „Nur gut einen Monat vor der Wahl wäre der Schaden für Aiwangers Partei weitaus größer als für den Ministerpräsidenten, der sogar mit Sympathien rechnen könnte.“

Die „Welt“-Kommentatorin Anna Schneider ortete wiederum eine „Hetzjagd“ gegen Aiwanger. „Endlich gab es schlimmes Material gegen einen dieser Abweichler in der deutschen Politik“, schreibt sie. „Das Bild der Unschuld vom niederbayrischen Lande braucht Aiwanger nicht zu malen. Stattdessen sollte er aufklären, wie es zu der Hetzschrift kam und was seine Rolle dabei war“, meint „TAZ“-Redakteur Dominik Baur.

Kritik an Berichterstattung der „SZ“

Nicht zuletzt wurde aber auch Kritik an der Berichterstattung der „SZ“ laut. Kritisch äußerte sich etwa der deutsche Medienjournalist Stefan Niggemeier. Dem Text würde „jede Distanz zu sich selbst“ fehlen, schreibt er in einem Artikel des deutschen Onlinemagazins Übermedien.

„Vom ersten Absatz an ist der Text beschäftigt mit seiner eigenen möglichen Wirkung“, schreibt Niggemeier da. „Es ist schwer, daraus nicht auch den dringenden Wunsch zu lesen, dass diese Wirkung eintreten möge.“ Die Botschaft der Zeitung sei Niggemeier zufolge, dass die Recherche in der Lage sei, Aiwangers Höhenflug zu stoppen. Die „Neue Zürcher Zeitung“ („NZZ“) wirft der „SZ“ vor, „Journalismus mit Aktivismus“ zu verwechseln.