Demonstranen zeigen rote Karten
Reuters/Isabel Infantes
Frauenrechte

Kusseklat trifft Nerv der spanischen Politik

Vor mehr als einer Woche hat das spanische Frauen-Team die Fußballweltmeisterschaft gewonnen. Doch der sportliche Erfolg war rasch kein Thema mehr, überschattet wurde alles von dem ungebetenen Kuss, den Fußballverbandspräsident Luis Rubiales der Spielerin Jennifer Hermoso gegeben hatte. Vor allem Rubiales’ Haltung danach ließ die Wogen hochgehen – und das ist in Spanien kein Zufall. Frauenrechte sind ein Hauptthema der politischen Auseinandersetzung – mit dem auch Wahlen verloren oder gewonnen werden können.

Rubiales hatte bei der außerordentlichen Generalversammlung des Spanischen Fußballverbandes (RFEF) am Freitag den von vielen Seiten geforderten Rücktritt kategorisch abgelehnt und sich in seiner voller Pathos vorgetragenen Rede als Opfer stilisiert: „Der falsche Feminismus sucht nicht nach der Wahrheit, er versucht, sich eine Medaille umzuhängen und zu glauben, dass wir vorankommen. Sie kümmern sich nicht um die Menschen“, sagte er und beklagte eine „Hetzjagd“.

„Soll mich ein Küsschen in beiderseitigem Einvernehmen hier rausbringen? Ich werde kämpfen bis zum Ende.“ Von den Delegierten des RFEF erntete er Beifall. Der Verband bezichtigte Hermoso der Lüge und drohte rechtliche Schritte an: Ihre Darstellung, der Kuss sei nicht in beiderseitigem Einvernehmen erfolgt, sei falsch. Mit einer Reihe von Bildern und Videos sollte das untermauert werden.

Rücktrittsaufforderung auch aus dem Verband

Vor allem diese Vorgänge gossen weiter Öl ins Feuer. Der Großteil der spanischen Spielerinnen beschloss, nicht mehr unter Rubiales als Verbandspräsident anzutreten. Der Fußballweltverband (FIFA) suspendierte am Wochenende den Präsidenten, der Fall liegt beim spanischen Sportgerichtshof (TAD), und die Justiz forderte Hermoso auf, über eine Anzeige zu entscheiden.

Und schließlich forderten die RFEF-Regionalpräsidenten nach einem Treffen am Montag Rubiales’ „sofortigen“ Rücktritt nach dessen „inakzeptablem Verhalten“. Dieses habe „dem Image des spanischen Fußballs schweren Schaden zugefügt“. Sogar die UNO äußerte sich nun kritisch gegenüber Rubiales. „Wie schwierig ist es, jemanden nicht auf die Lippen zu küssen?“, sagte der Sprecher von Generalsekretär Antonio Guterres, Stephane Dujarric, am Montag in New York.

Frauenrechte mit politischer Priorität

Fußball hat in Spanien freilich einen enorm hohen Stellenwert, doch wieso Rubiales nun das Land spaltet, hat andere Gründe: In kaum einem anderen europäischen Land stehen Frauenrechte so im Fokus der Tagespolitik. Der Eklat trifft ins Mark der politischen Debatten. Die seit 2020 vom Sozialdemokraten Pedro Sanchez geführte Regierung hat sich Frauenpolitik ganz oben auf die Fahnen geheftet.

Yolanda Diaz und Amanda Gutierrez
picturedesk.com/Pierre-Philippe Marcou
Vizeregierungschefin Yolanda Diaz und Fußballgewerkschafterin Amanda Gutierrez bei einer Pressekonferenz

Das liegt auch daran, dass Spanien nach der Diktatur Francisco Francos enormen Aufholbedarf hatte: Bis 1975 durften Frauen ohne Zustimmung ihres Ehemannes oder Vaters weder ein Konto eröffnen noch arbeiten. Erst 1978 wurde in der demokratischen Verfassung der Gleichheitsgrundsatz zwischen Frauen und Männern festgeschrieben. Und bis 1981 gab es in Spanien kein Recht auf Scheidung.

Vom Nachzügler zum Vorreiter

Zwar gab es später weitere Verbesserungen, Tempo bei den Frauenrechten machte dann aber erst die Regierung des Sozialdemokraten Jose Luis Rodriguez Zapatero ab 2004. Sanchez machte Frauenrechte dann zu einer Hauptagenda und nahm weltweit eine Vorreiterrolle ein: In den Führungsspitzen großer Unternehmen und Verbände wurde eine Frauenquote von mindestens 40 Prozent vorgeschrieben. Die Lohnlücken zwischen Männern und Frauen wurden erheblich verkleinert, die Abtreibungsregeln liberalisiert und ein europaweit einzigartiger Menstruationskrankenstand eingeführt.

Verhängnisvolle Panne bei Sexualstrafrecht

Mit einem harten Sexualstrafrecht reagierte man auf Gruppenvergewaltigungen. Sexuelle Übergriffe jeglicher Art wurden als Vergewaltigung betrachtet – egal ob sich das Opfer wehrt oder eine Handlung aus Angst geschehen lässt. Die Strafen für Vergewaltigung und sexuelle Gewalt, aber auch für verbale sexualisierte Angriffe und „einschüchternde“ Komplimente wurden erhöht. Allerdings führten Gesetzeslücken ausgerechnet dazu, dass durch das neue Gesetz Sexualstraftäter, die noch nach älteren Gesetzen verurteilt worden waren, auf freien Fuß kamen. Ein Koalitionsstreit war die Folge, das Gesetz musste repariert und stark entschärft werden.

Rechtspopulisten mit Frontalangriff

Die konservativen Kritiker sahen sich durch den „Gesetzespfusch“ in ihrer Ablehnung zum Ausbau der Frauenrechte bestätigt. Der Streit war einer der Auslöser für die vorgezogene Neuwahl in Sommer. Die rechtspopulistische und in Teilen franquistische Partei Vox warb damit, sämtliche Reformen in Sachen Frauen- und LGTBQ-Rechte rückgängig machen zu wollen. Außerdem gebe es keine geschlechterspezifische, männliche Gewalt, wurde behauptet.

Umfragetief trotz beeindruckender Wirtschaftsdaten

Umfragen sagten Sanchez eine glatte Wahlniederlage voraus, allerdings war für viele Beobachterinnen und Beobachter unklar, wie seine Sozialdemokraten (PSOE) derart viel Vertrauen verloren haben könnten. Denn kaum ein anderes Land Europas kam besser durch die Teuerungskrise der vergangenen Monate.

Man führte schon im Sommer 2022 einen Strompreisdeckel ein, auch die Teuerung bei Mieten wurde gedeckelt. Die Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel wurde abgeschafft, mit hohen staatlichen Subventionen wurden die Preise für den öffentlichen Nahverkehr gesenkt. Die Folge ist, dass Spanien eine der niedrigsten Inflationsraten der EU hat und gleichzeitig beim Wirtschaftswachstum im Spitzenfeld liegt.

Der Wirtschaftspolitik der Sanchez-Regierung konnte man kaum Fehler vorwerfen: Die Kritik der Opposition konzentrierte sich auf Zugeständnisse an die katalanischen Separatisten und eben die progressive Gesellschaftspolitik, die damit zumindest teilweise wahlentscheidend wurde.

Von Konservativen überholt

Tatsächlich konnte Sanchez’ PSOE bei der Wahl im Juli sogar zulegen, wurde allerdings klar von der konservativen PP überholt, die im Vergleich zu Vox weitaus gemäßigter im Ton auftritt, aber ebenfalls eher jene Wählerinnen und Wähler anspricht, denen der gesellschaftliche Wandel zu schnell geht. Parteichef Alberto Nunez Feijoo wurde von König Felipe VI. mit der Regierungsbildung beauftragt: Er ersparte sich angesichts der fehlenden Mehrheit zwar die schwierige Entscheidung, ob er mit Vox eine Regierung bilden will, hat umgekehrt aber auch keine Aussicht auf eine andere Mehrheit.

Auch Sanchez hat selbst mit ehemaligen linken Regierungspartnern nicht genügend Mandate, er wäre auf die katalanischen Separatisten angewiesen, die wohl einen zu hohen Preis für eine Unterstützung fordern werden. Dementsprechend ist eine Neuauflage der Wahl wahrscheinlich, diese würde dann wohl im Jänner stattfinden.

Thema für den nächsten Wahlkampf?

All diese politischen Entwicklungen standen bei den spanischen Medien oft nur an zweiter Stelle, überschattet vom Fall Rubiales. Nicht nur aus der Politik, auch aus Kunst und Kultur und vor allem aus dem Fußball erklärten Prominente ihre Solidarität mit Hermoso. Auf den Punkt brachte es Torfrau Misa Rodriguez in einem Posting. In einem Cartoon sagt ein Mädchen mit Fußball zu einer älteren Frau: „Oma, erzähl mir, wie ihr eine Weltmeisterschaft gewonnen habt.“ „Wir haben nicht nur eine Weltmeisterschaft gewonnen, Kleines“, antwortet die Frau. „Wir haben viel mehr gewonnen.“

Umgekehrt wollten andere wiederum die Aufregung so gar nicht verstehen – ein Sinnbild für die Gräben in der spanischen Gesellschaft zwischen Machismo und feministischer Überzeugung. Und selbst wenn der Fall Rubiales bis zu einer möglichen Neuwahl zumindest juristisch verarbeitet sein wird, das Thema an sich wird dem Land wohl erhalten bleiben. Gut möglich also, dass der Kusseklat in einem möglichen Wahlkampf im Winter noch einmal aufgewärmt wird.