Der Ministerpräsident von Bayern, Markus Söder
APA/dpa/Sven Hoppe
Flugblattaffäre

Söder hält an Vize Aiwanger fest

Die Affäre um ein antisemitisches Flugblatt ist abgeschlossen – zumindest für Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU). Er habe nach Bewertung aller Fakten entschieden, seinen Stellvertreter und Wirtschaftsminister des Bundeslandes, Hubert Aiwanger (Freie Wähler), nicht zu entlassen: Das sei nicht verhältnismäßig. Nun müsse Vertrauen zurückgewonnen werden, so Söder in einer kurzfristig anberaumten Pressekonferenz, nach der auch die von Söder an Aiwanger gestellten Fragen samt Antworten veröffentlicht wurden.

Er habe alle Fakten bewertet und abgewogen, sagte Söder Sonntagvormittag bei seiner Erklärung, bei der keine Fragen zugelassen waren. Es gebe schwere Vorwürfe, aber keinen Beweis, dass Aiwanger das umstrittene Schriftstück verfasst habe. Weiters gebe es eine Erklärung Aiwangers, dass er es nicht war. Aiwanger habe das auch in einem langen, persönlichen Gespräch mit Söder bestätigt. Seit damals gebe es nichts Vergleichbares von Aiwanger, das Ganze sei auch immerhin 35 Jahre her, so Söder. „Niemand von uns ist heute noch, wie er mit 16 war.“

Eine Entlassung sei jedenfalls nicht verhältnismäßig, „Schwamm drüber“ und einfach weitermachen sei aber auch der falsche Weg. Es seien viele Gefühle verletzt worden, und auch die Glaubwürdigkeit habe gelitten. Er, Söder, habe jedenfalls einen „ernst und gut gemeinten“ Rat: Reue und Demut zeigen sei nun wichtig. Es sei nicht wichtig, was man mit 16 sage, sondern was man mit 52 tatsächlich mache.

Markus Söder und Hubert Aiwanger
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Markus Söder will die Koalition mit Hubert Aiwanger fortsetzen

Aiwanger habe sich weiters entschuldigt und distanziert – wenn auch etwas spät, kritisierte Söder dessen Krisenmanagement. Sein Stellvertreter hätte die Vorwürfe früher, entschlossener und umfassender aufklären müssen, so Söder. Die Entschuldigung sei „spät“, aber „nicht zu spät“ gekommen, und richtig und notwendig gewesen. Kritik am Krisenmanagement Aiwangers und einer „unsäglichen Hängepartie“ kam auch von Bayerns Landtagspräsidentin Ilse Aigner (CSU), die sich aber hinter Söders Entscheidung stellte.

Söder: „Definitiv“ kein Schwarz-Grün in Bayern

Die Sache sei auch im Koalitionsausschuss intensiv besprochen worden, so Söder bei seiner Erklärung weiter. Man sei der gemeinsamen Auffassung, dass Aiwanger Vertrauen zurückgewinnen müsse, auch in der jüdischen Gemeinde und Community. Das habe er, Söder, unter anderem mit Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, besprochen. Er bedauere das Ganze, für ihn sei die Sache aber nun abgeschlossen. Bayern wählt am 8. Oktober.

Ihm sei klar, dass seine Entscheidung nicht allen gefallen werde, so Söder schließlich, aber so könne die bürgerliche Koalition in Bayern fortgesetzt werden – in Bayern werde es „definitiv“ kein Schwarz-Grün geben. Die Politik müsse sich auf das Wesentliche konzentrieren, nicht auf eine Person, sondern die Sorgen der Bevölkerung. Klar sei aber auch, dass diese „unschöne Woche“ dem Bundesland geschadet und die Koalition belastet habe. Als Ministerpräsident habe er nach bestem Wissen und Gewissen versucht, Schaden zu begrenzen bzw. abzuwenden und eine stabile Regierung zu gewährleisten.

Der Ministerpräsident von Bayern, Markus Söder
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Bei Söders Erklärung waren keine Fragen zugelassen

Knobloch selbst sagte in einer Mitteilung an die Kultusgemeinde, Aiwanger müsse „Vertrauen wiederherstellen und deutlich machen, dass seine Aktionen demokratisch und rechtlich gefestigt sind“. Inwieweit es Aiwanger gelingen werde, die im Raum stehenden Vorwürfe zu entkräften, werde sich zeigen, sagte die ehemalige Präsidentin des Zentralrates der Juden in Deutschland. Die Türen der jüdischen Gemeinschaft seien jedenfalls immer für ihn offen.

Söder hält an Vize Aiwanger fest

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) will die Koalition mit den Freien Wählern fortsetzen – und hält in der Flugblattaffäre an seinem Stellvertreter, Wirtschaftsminister und Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger fest.

Fragenkatalog veröffentlicht

Unmittelbar nach Söders Pressekonferenz veröffentlichte die Bayerische Staatsregierung den in der Causa an Aiwanger geschickten Fragenkatalog. Auch seine Antworten stehen in dem Dokument auf dem bayrischen Regierungsportal. Aiwanger habe Söders Angaben zufolge der Veröffentlichung zugestimmt.

Aiwanger hält daran fest, das antisemitische Flugblatt nicht verfasst zu haben. Er bleibt bei seinen Antworten in vielen Punkten, auch bei der Darstellung, dass er sich nicht erinnern könne. „Die mit diesem Fragenkatalog angesprochenen Vorgänge liegen rund 36 Jahre zurück. Damals war ich 16 Jahre alt. Ich weise daher darauf hin, dass mir viele Details heute nicht mehr erinnerlich sind.“

Aiwanger und Freie Wähler erleichtert

Aiwanger selbst zeigte sich in einer ersten Reaktion nach der Söder-Pressekonferenz erleichtert. „Ich freue mich, dass wir politisch weiterarbeiten können, und in diesem Sinne arbeite ich für Bayern weiter“, sagte der Freie-Wähler-Chef am Sonntag am Rande eines Wahlkampfauftritts in einem Bierzelt in Grasbrunn (Landkreis München). Dazu schrieb Aiwanger auf Twitter (X): „Jetzt bestätigt sich, was ich von Anfang an gesagt habe: Es gibt keinen Grund, mich zu entlassen, die Kampagne gegen mich ist gescheitert.“

Auf Söders Forderung, etwa Gespräche mit Vertretern jüdischer Gemeinden zu suchen, sagte Aiwanger: „Das muss ich jetzt prüfen, um in den nächsten Tagen hier die Gespräche zumindest vorzubereiten.“ Der Antisemitismusbeauftragte der deutschen Bundesregierung, Felix Klein, legte Aiwanger einen Besuch der KZ-Gedenkstätte Dachau nahe. Damit käme er seiner „Vorbildfunktion als verantwortlicher Politiker“ nach.

Auch Aiwangers Fraktion begrüßte die Entscheidung Söders. „Wir sind froh, dass die Bayern-Koalition für unser Land stabil und in Einmütigkeit weiterarbeiten wird“, sagte Freie-Wähler-Fraktionschef Florian Streibl am Sonntag laut einer Mitteilung. Man sei der Auffassung, dass Aiwanger „für das unverantwortliche und vollkommen inakzeptable Handeln eines Familienmitglieds vor mehr als drei Jahrzehnten keinerlei politische Verantwortung trägt“.

Faeser: Machtkalkül statt Haltung

Scharfe Kritik an Söder kam hingegen von der deutschen Innenministerin Nancy Faeser (SPD). „Herr Söder hat nicht aus Haltung und Verantwortung entschieden, sondern aus schlichtem Machtkalkül“, sagte sie am Sonntag dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). „Der Umgang mit Antisemitismus darf aber keine taktische Frage sein.“ Aiwanger habe sich weder überzeugend entschuldigt noch die Vorwürfe ausräumen können. Stattdessen habe er sich „auf unsägliche Weise“ zum Opfer erklärt. „So verschieben sich Grenzen, die nicht verschoben werden dürfen.“

Grünen-Chef Omid Nouripour sagte dem „Spiegel“: „Es geht nicht um den 17-jährigen Hubert, sondern um den 52-jährigen Aiwanger und seinen Umgang mit der eigenen Vergangenheit.“ Dieser Umgang werde nun von Söder belohnt, „weil ihm Taktik wichtiger als Haltung ist“. Nouripour fügte hinzu, das sei „unanständig und schlecht für Bayern“ sowie „schlecht für Deutschland“.

Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) kritisierte Söders Entscheidung ebenfalls scharf. „Sich als Jugendlicher möglicherweise zu verlaufen, ist das eine, sich als verantwortlicher Politiker zum Opfer zu machen und der Inszenierung wegen an den demokratischen Grundfesten zu rütteln, ist das andere“, sagte er der dpa. „Da ist eine Grenze überschritten.“ Vor diesem Hintergrund sei die Entscheidung Söders „leider keine gute“, erklärte Habeck. Es gehe nicht um Jugendsünden, sondern um einen Grundkonsens für die ganze Republik.

„Ein oder wenige Exemplare“ in Schultasche

Gegen Aiwanger waren seit einer Woche immer neue Vorwürfe laut geworden. Am Samstag vor einer Woche hatte er zunächst schriftlich zurückgewiesen, zu Schulzeiten ein antisemitisches Flugblatt geschrieben zu haben, über das zuerst die „Süddeutsche Zeitung“ berichtet hatte. Gleichzeitig räumte er aber ein, es seien „ein oder wenige Exemplare“ in seiner Schultasche gefunden worden. Kurz darauf erklärte Aiwangers älterer Bruder, das Pamphlet geschrieben zu haben.

Bayerns SPD hatte der CSU angeboten, dass die Landtagsfraktion eine Minderheitsregierung bis zur Landtagswahl toleriert – sollte Ministerpräsident Söder seinen Stellvertreter Aiwanger entlassen und die Koalition mit den Freien Wählern brechen. Die CSU hatte stets erklärt, die Koalition mit den Freien Wählern nach der Wahl fortsetzen zu wollen. Alle Umfragen hatten bis zuletzt auch fast keinen Zweifel daran gelassen, dass das auch möglich sein wird. Eine Veröffentlichung des Fragenkatalogs und der Antworten wurde unter anderem von der oppositionellen FDP eingefordert.

Entschuldigung mit einem „Aber“

Am Donnerstag hatte sich Aiwanger bei einem Auftritt, der nur wenige Sekunden dauerte, erstmals für mögliche Fehler in seiner Jugendzeit entschuldigt, sprach aber erneut von einer politischen Kampagne gegen ihn und seine Partei. Söder bezeichnete diese Entschuldigung als überfällig. Auch am Freitag verteidigte sich Aiwanger bei einem Auftritt auf einem Volksfest in Niederbayern und sprach von einer von langer Hand geplanten Schmutzkampagne.

Der bayrische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger
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Aiwangers Auftritt mit Entschuldigung dauerte am Donnerstag nur wenige Sekunden

„Jawohl, auch ich habe in meiner Jugend Scheiß’ gemacht. Jawohl, ich habe auch Mist gemacht.“ Er finde es aber nicht in Ordnung, jemanden später in seinem Leben mit Dingen zu konfrontieren, die 35 bis 40 Jahre zurückliegen, „bis zu seiner beruflichen Existenzvernichtung“. Es gebe viele Dinge, die man im Nachhinein nicht mehr machen würde.

Aiwanger sieht keinen Grund für Rücktritt

In einem Interview mit der „Bild am Sonntag“ gab Aiwanger an, dass er keinen Grund für einen Verzicht auf sein Amt in Bayern sehe: „Wenn diese Hexenjagd nicht aufhört und Erfolg hat, wird niemand mehr in die Politik oder in andere Führungspositionen gehen, aus Angst, dass seine Vergangenheit auf jeden schlechten Witz hin durchleuchtet wird.“ Er wisse nicht, zu welcher Einschätzung Söder komme, „aber ich sehe nach meinen Antworten überhaupt keinen Grund für einen Rücktritt oder eine Entlassung“, so Aiwanger.

Kritik an Aiwangers Umgang mit Affäre

Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden, kritisierte Aiwanger für dessen Umgang mit der Affäre. Es sei problematisch, dass „direkt in einem Atemzug mit dieser Entschuldigung wieder das Thema kommt, dass er das Ganze als eine Kampagne gegen sich sieht“.

Ähnlich kritisch sieht er auch Aiwangers Aussagen gegenüber der „Welt“, dass seiner Ansicht nach die Schoah, der Völkermord an den europäischen Juden während der Nazi-Zeit, zu parteipolitischen Zwecken missbraucht werde. Für Schuster werde dadurch versucht, „die Opfer zu Tätern zu machen“.

Rückendeckung erhält Aiwanger hingegen von dem früheren SPD-Chef Sigmar Gabriel. „Warum sollen junge Neonazis aus der rechtsextremistischen Szene aussteigen, wenn sie am Beispiel Hubert Aiwanger erleben, dass man auch 35 Jahre später noch für den Wahnsinn der eigenen Jugend öffentlich gebrandmarkt wird?“, fragte Gabriel auf Twitter.