Absatz über die Verfassungsbestimmung in der Änderung des Mietrechtsgesetzes
ORF
Beispiel Mietpreisdeckel

„Absichern“ mit der Zweidrittelmehrheit

Vor wenigen Tagen hat die Regierung einen Mietpreisdeckel präsentiert. Ein erster Entwurf liegt bereits dem Parlament vor. Zur Überraschung vieler will die ÖVP-Grünen-Koalition den Deckel mit Verfassungsbestimmungen ausstatten. Begründet wird das mit einem zusätzlichen Schutz. Mit dieser „Absicherung“ setzt die Regierung eine lange Tradition fort.

Das Mietrechtspaket, das Ende August vorgestellt wurde, sieht im Kern vor, dass für bestimmte Mietverhältnisse die Mieten in den kommenden drei Jahren um nicht mehr als jeweils fünf Prozent steigen dürfen. Das Parlament wird demnächst über den Antrag von ÖVP und Grünen beraten, ein Beschluss könnte im Oktober anstehen. Aktuell braucht die Koalition dafür aber die Stimmen von SPÖ oder FPÖ. Denn der Entwurf enthält Verfassungsbestimmungen, die nach Ansicht von Fachleuten juristisch eigentlich gar nicht benötigt werden.

ÖVP und Grüne begründeten die Zweidrittelmaterie jedoch mit einem zusätzlichen Schutz für Mieter und Mieterinnen. Man wolle den Deckel „gesetzlich wasserdicht“ machen und vor „allfälligen Klagen schützen“. In der Regierung besteht offensichtlich die Sorge, das Gesetz könnte ohne Verfassungsbestimmung vor dem Verfassungsgerichtshof (VfGH) landen und aufgehoben werden.

Mit einer Zweidrittelmehrheit wolle sich die Koalition „absichern“, sagt Klaus Poier, Verfassungsrechtler der Universität Graz im Gespräch mit ORF.at. Dieses Vorgehen sei kein Einzelfall, sondern seit Jahrzehnten ein fester Bestandteil der heimischen Politik.

Statt der „Eleganz“ eine „Ruine“?

Poier weiß, wovon er spricht. Anfang der 2000er Jahre war der Rechtsprofessor Teil jenes Ausschusses, der im Zuge des Österreich-Konvents das Verfassungsrecht durchforstet und analysiert hatte. Die Aufgabe der Fachleute bestand mehr oder weniger darin, Lösungen zu finden, wie man das Verfassungsrecht verschlanken und neu ordnen kann. Denn über die Jahrzehnte hinweg wurde das Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG), dem Bundespräsident Alexander Van der Bellen eine „Eleganz“ attestierte, kleinteiliger und unübersichtlicher.

Aber auch zig Verfassungsbestimmungen und -gesetze, die außerhalb der Stammverfassung existieren, sorgten für den Vorwurf, die Politik degradiere das Verfassungsrecht zu einem Mistkübel. Nicht selten wird in diesem Zusammenhang der frühere Justizminister Hans Klecatsky zitiert. Wegen ihrer Zersplitterung und Änderungsanfälligkeit hatte der Innsbrucker Verfassungsrechtsprofessor die Verfassung schon in den 60er Jahren als „Ruine“ bezeichnet.

Blick in den Plenarsaal während einer Nationalratssitzung im Wiener Parlament
ORF/Roland Winkler
Der Nationalrat übt die Rolle des Gesetzgebers und des Verfassungsgesetzgebers aus

„Als wir im Zuge des Österreich-Konvents das ganze Verfassungsrecht analysiert und ausgewertet haben, stießen wir auf gar nicht so wenige Verfassungsbestimmungen, bei denen wir nicht feststellen konnten, warum sie im Verfassungsrang stehen“, sagt Verfassungsrechtler Poier. Viele Bestimmungen, die der Nationalrat mit einer Zweidrittelmehrheit beschlossen hatte, hätten nach Ansicht der Expertinnen und Experten ebenso gut einfachgesetzlich geregelt werden können.

Hürde für Verfassungsbestimmungen niedrig

Im Jahr 2005 empfahl der Ausschuss unter der Leitung des damaligen VfGH-Präsidenten Karl Korinek, die Verfassungsstruktur zu bereinigen. Zwei Jahre später wurden Hunderte Verfassungsbestimmungen zur Gänze aufgehoben oder zu einfachen Gesetzen erklärt. „Über die Vielfalt an Verfassungsbestimmungen waren wir alle erstaunt“, sagt Staatswissenschaftler Ewald Wiederin, der damals stellvertretender Vorsitzender des Fachausschusses war.

Obwohl sich die Ausschussmitglieder mit dem Verfassungsrecht schon seit Jahrzehnten auseinandergesetzt hatten, sei man auf Bestimmungen gestoßen, von denen die wenigsten gehört hatten. Der Ausschuss habe sich aber nicht angemaßt, die Gesetze zu bewerten. „Wir haben es rein technisch gesehen und ein legistisches Mandat besessen“, so Wiederin im Gespräch mit ORF.at. Nach der Rechtsbereinigung, die 2007 im Nationalrat beschlossen wurde, sei das Verfassungsrecht „um einiges besser geworden“, die Struktur sei aber „noch immer suboptimal“.

Zweidrittelmehrheit

Gemäß Bundesverfassung können Verfassungsgesetze oder in Gesetzen enthaltene Verfassungsbestimmungen vom Nationalrat nur in Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mitglieder und mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen beschlossen werden.

Warum die Zahl der Verfassungsbestimmungen so in die Höhe getrieben wurde, liegt zum einen daran, dass es hierzulande relativ einfach ist, eine Verfassungsmaterie zu beschließen. Lässt sich für ein politisches Vorhaben im Nationalrat eine Zweidrittelmehrheit finden, kann dieses in den Verfassungsrang gehoben werden. Inhaltlich gibt es keine Vorgaben. Nur bei einer Gesamtänderung der Verfassung ist eine Volksabstimmung zwingend durchzuführen, wie etwa vor dem Beitritt zur Europäischen Union.

Zum anderen liegen die Wurzeln von Verfassungsmaterien auch in anderen verfassungsrechtlichen Vorgaben. Statt Letztere zu ändern bzw. Gesetze an diese anzupassen, seien in der Vergangenheit lieber neue Zweidrittelgesetze beschlossen worden, heißt es beispielsweise im Bericht des Österreich-Konvents. Einige Bestimmungen seien zudem die Folge von legistischen Fehlern, weil schlicht der Überblick über das Verfassungsrecht fehlt. Bestimmte Anordnungen hätten deshalb gleich mehrfach Eingang in das Verfassungsrecht gefunden.

Absicherung für politisch gefundene Kompromisse

Ein Grund für Verfassungsbestimmungen ist auch die „Absicherung“: Einerseits soll mit einem Zweidrittelbeschluss verhindert werden, dass politisch vereinbarte Kompromisse einer Mehrheit im Parlament von anderen Mehrheiten geändert werden. Andererseits werden Gesetze mitunter aber auch deshalb auf die Verfassungsstufe gehoben, um sie gegen den VfGH zu immunisieren. „Statt sich zu bemühen, Zweifel auszuräumen, entzieht man dem VfGH die Möglichkeit, das Gesetz zu prüfen“, betont ein früherer Höchstrichter gegenüber ORF.at.

Saal des Verfassungsgerichtshofs in Wien
ORF/Christian Öser
Die Politik kann die Prüfung durch den VfGH umgehen, indem sie Beschlüsse mit Zweidrittelmehrheit fasst

Als Beispiel nennt er das ungleiche Pensionsantrittsalter von Männern und Frauen. Der Verfassungsgerichtshof hob im Dezember 1990 den Passus wegen Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz auf. Der Argumentation der Politik, dass das ungleiche Pensionsantrittsalter den Frauen zugutekomme, widersprach das Höchstgericht. Doch statt sich eine verfassungskonforme Anpassung des Gesetzes zu überlegen, wurde das ungleiche Antrittsalter vom Nationalrat im Jahr 1992 auf die Verfassungsstufe gehoben. Somit wurde der VfGH umgangen.

In diese Kategorie könnte eben auch der Mietpreisdeckel fallen. Ein früheres Mitglied des Verfassungsdienstes im Bundeskanzleramt sagt, man wolle ein Gesetz „vorbei am Verfassungsgerichtshof“ beschließen. Selbst wenn das kritisch gesehen werden muss, sei eine Absicherung als „präventive Maßnahme für Mieter und Mieterinnen wohl sinnvoller, als Unsicherheiten zu produzieren“. Es könne nämlich durchaus sein, dass man mit dem Deckel in die Eigentumsrechte eingreift und der VfGH so tätig werden müsste, so der Experte.

ÖVP und Grüne argumentierten ähnlich und betonten, dass Fachleute ihnen zu diesem Schritt geraten hätten. Vermieterinnen und Vermieter könnten in den kommenden Jahren nämlich mögliche Verluste „ohne Schutzbestimmung für Mieter in der Verfassung“ geltend machen. Verfassungsrechtler Poier kann die Begründung aus Sicht der Parteien nachvollziehen. Am Ende wisse aber niemand, wie das Höchstgericht entscheidet. Es komme auf viele Faktoren an, so Poier. Im „Standard“ sagten Fachleute, der Deckel würde vor dem VfGH halten.

Buchhinweise

  • Kurt Heller: „Der Verfassungsgerichtshof“, Verlag Österreich
  • Walter Berka: „Verfassungsrecht. Grundzüge des österreichischen Verfassungsrechts für das juristische Studium“, Verlag Österreich

„Das gute Recht der Verfassungsmehrheit“

Freilich hat sich im Laufe der Zeit die Frequenz der beschlossenen Gesetze bzw. Bestimmungen im Verfassungsrang geändert. Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg gehörten Beschlüsse mit einer Zweidrittelmehrheit quasi zum politischen Alltag. Jahrzehntelang verfügten SPÖ und ÖVP nämlich zusammen über zwei Drittel der Nationalratsmandate. Wenn sie eine Verfassungsbestimmung beschließen wollten, konnten sie das ohne Weiteres tun. „Das ist das gute Recht der Verfassungsmehrheit“, kommentiert das frühere Mitglied des Verfassungsdienstes.

In dieser Zeit, die bis in die frühen 90er Jahre reichte, haben sich SPÖ und ÖVP bei Themen, die ideologisch aufgeladen sind, auf mühsame Kompromisse geeinigt. Mit einem Zweidrittelbeschluss habe man das politisch Paktierte absichern und den Regierungspartner daran binden wollen, so der Ex-Höchstrichter des Verfassungsgerichtshofs. Es liege beim Gesetzgeber, was Verfassungsrecht sein soll, sagt er und verweist etwa auf Staatszielbestimmungen, die seit geraumer Zeit in der Verfassung verankert werden.

Diese seien „im Grunde politische Absichtserklärungen“. Gleichzeitig würden sie aber auch Folgen nach sich ziehen, weil sich Höchstgerichte in ihrer Rechtsprechung auf solche verfassungsrechtlichen Vorgaben beziehen können. Österreich bekennt sich etwa zum umfassenden Umweltschutz und zur Sozialpartnerschaft. Zuletzt war auch die Rede davon, das Bargeld als Staatsziel zu definieren.

Unter Fachleuten wird das kritisch gesehen, einige sprechen von einem „Missbrauch“. Die Verfassung sei nämlich dazu da, um den Staat zu organisieren und die Gesetzeswerdung zu regeln. Die Verfassung müsse klar und deutlich sein, „Lyrik“ habe darin nichts verloren, heißt es sinngemäß. Nach dem Österreich-Konvent hielt der renommierte Verfassungsrechtler Walter Berka fest, die Annahme, die Bürger und Bürgerinnen der Republik würden ihre Verfassung kennen, sei schon „längst zur Illusion“ geworden.