Ukrainische Soldaten an der Frontlinie in Bakhmut in der Region Donetsk
AP/Libkos
Ukrainische Offensive

Wettlauf gegen die Zeit

Nicht nur die Ukraine, auch die USA und die NATO sprechen von Fortschritten bei der ukrainischen Gegenoffensive. Der russische Präsident Wladimir Putin sieht diese gescheitert. Entschieden ist noch nichts. Wie sich der Kampf an der Front entscheidet, ist letztlich ein Wettlauf mit der Zeit, denn die nächste Schlammperiode steht vor der Tür. Und es stellt sich auch die Frage, wie schnell und gut Verluste ausgeglichen werden können.

Zuletzt verkündete die Ukraine Erfolgsmeldungen im Süden. Die Truppen erreichten den Durchbruch der ersten Verteidigungslinie im Süden. US-Außenminister Antony Blinken sah bei seinem Besuch in Kiew am Mittwoch und Donnerstag „gute Fortschritte bei der Gegenoffensive“. Auch von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hieß es am Donnerstag, dass die Ukraine Geländegewinne von 100 Metern pro Tag mache.

Russland gab inzwischen selbst den Rückzug aus der ukrainischen Ortschaft Robotyne zu. Die Ukraine hatte die Rückeroberung des Orts bereits vor über einer Woche verkündet. Das US-Thinktank Institute for the Study of War (ISW) will noch nicht von einem Durchbruch sprechen. Zwar habe die leichte Infanterie die Panzerwälle überwunden, doch so lange noch kein schweres Gerät in der Gegend sei, wollen die Fachleute nicht von Durchbruch sprechen.

Weitere Fortschritte unklar

Zudem hieß es von russischer wie von ukrainischer Seite, dass russische Truppen bei der ostukrainischen Stadt Kupjansk vorstoßen und laut der ukrainischen Vizeverteidigungsministerin Hanna Maljar dort eine weitere Offensive vorbereiten. Versucht wird offenbar, so viele ukrainische Truppen wie möglich in diesem Gebiet zu binden. Wie gut und schnell die ukrainischen Truppen nun im Süden voranschreiten können, ist völlig offen. Es gibt noch weitere befestigte russische Verteidigungsstrukturen.

Die Surowikin-Linie südlich von Robotyne gilt als stärkste russische Verteidigungslinie mit schwerem Gerät, Bunkern und Scharfschützenstellungen, dahinter folgt noch eine zweite, etwas weniger befestigte Verteidigungslinie. Die Stadt Tokmak, etwa 20 Kilometer südlich von Robotyne, ist überhaupt vollständig von einem Panzergraben umgeben und gilt nun als russische Militärbasis.

„Zermürbender Kampf“

Gelingt der ukrainische Vorstoß Richtung Melitopol, südlich von Tokmak, könnten die russischen Linien entlang der Schwarzmeer-Küste durchtrennt und die Nachschubwege von der Krim gefährdet werden, so die Militäranalysten Michael Kofman und Rob Lee in ihrer aktuellen Analyse der ersten drei Monate der ukrainischen Gegenoffensive, veröffentlicht auf der Plattform War on the Rocks. Die Ukraine habe mit einem „zermürbenden Kampf schrittweise Fortschritte“ erzielt.

Es sei der Ukraine nun im Süden gelungen, die Gefechtsvorpostenlinie zu durchstoßen, sagte auch Oberst Markus Reisner vom Bundesheer im Ö1-Morgenjournal. Die russischen Vorpostenlinien bestanden vor allem aus Gräben, oft in Baumreihen versteckt. Behindert wurde das ukrainische Fortkommen auch durch ausgelegte Minenfelder. Russland hatte diese Linie mit enormem Ressourcenaufwand verteidigt.

Ukrainischer Kommandant räumt hohe Verluste ein

Allerdings gebe es noch einige Unsicherheiten, und die Distanz bis zum erklärten Ziel Asowsches Meer betrage noch 80 Kilometer, so Reisner. Zudem sei unklar, wie viele russische Kräfte sich an den anderen Linien befänden: „Das wird man erst in den nächsten Tagen und Wochen sehen.“

Zeitlich sei der Vorstoß auch begrenzt, da der Regen und die Schlammperiode vor der Tür stehen. Fraglich sei auch, über welche Kraft die Ukraine noch verfüge: „Die Ukraine hat alle zwölf Brigaden für die Offensive eingesetzt. Es gibt kaum mehr Ressourcen, die wirklich stoßkräftig sind.“ Der ukrainische Kommandant des entscheidenden Frontabschnitts, Olexandr Tarnawskyj, räumte hohe Verluste ein.

Frage der Reserven entscheidend

Wie viele der ursprünglich für die Offensive ausgebildeten zwölf Brigaden mit geschätzt 60.000 Mann noch kampffähig sind, bleibt dabei unbekannt. In einem Frontbericht ist von 25 Prozent Ausfällen bei einem der Sturmbataillone die Rede. Das könnte auch auf andere Teile der Truppe zutreffen. Für den Militärexperten Franz-Stefan Gady vom International Institute for Strategic Studies (IISS) in London ist es nicht überraschend, dass die russischen Verteidigungslinien früher oder später durchbrochen werden können.

Die Frage sei immer, unter welchen Bedingungen, und ob die Ukraine noch genügend Reserven habe: „Die russischen Verteidigungsstellungen sind konzipiert, die Ukraine abzunützen und nicht abzuwehren.“ Erfolgsaussichten zu evaluieren sei schwierig, da zwar die Verluste beider Seiten signifikant sein dürften, das genaue Verhältnis zueinander aber unklar sei, analysierte Gady. Das sei aber wichtiger als Geländegewinne.

Ähnlich argumentieren auch die Experten Kofman und Lee. Es gehe um das „Gleichgewicht der Zermürbung im Laufe der Zeit“, und welche Seite über mehr Reserven verfüge und die Kampfkraft in einem langwierigen Gefecht besser kontrollieren könne. Recherchen an der Front hätten jedenfalls gezeigt, dass es den neuen ukrainischen Brigaden vielfach an „ausreichendem Zusammenhalt“ und Erfahrung mangle.

Russische Truppen klagen über Versorgungsprobleme

Allerdings dürften auch die russischen Truppen vor Versorgungsproblemen stehen. Feldkommandeure klagen über Munitionsmangel und ein zunehmendes Ungleichgewicht bei der Artillerie zugunsten der Ukraine. Das ISW analysiert, dass inzwischen nicht nur die Produktion von Präzisionswaffen schleppend vorangeht, sondern auch die Grundversorgung wackelt.

Das ISW zitiert den ukrainischen Militärischen Hauptnachrichtendienst (GUR), dass Russland Schwierigkeiten habe, optische Geräte, Elektronik und Chips zu beschaffen. Aus russischen Quellen gehe hervor, dass die Russische Verteidigungsindustrie (DIB) inzwischen nicht mehr genug Gummi produzieren kann, um abgenutzte Reifen für militärische Ausrüstung zu ersetzen. Das könnte das Fortkommen an der Front unter schlammigen und eisigen Bedingungen erschweren.

US-Außenminister Antony Blinken bei seinem Besuchin der Ukraine
AP/Brendan Smialowski
US-Außenminister Blinken kündigte bei seinem erneuten Besuch in Kiew weitere Unterstützung für die Ukraine an

USA liefern Uranmunition

Beobachterinnen und Beobachter gehen davon aus, dass die Chancen der Ukraine auch davon abhängen, wie sehr sie vom Westen unterstützt werden, Ausrüstung, Waffen und Munition zu ersetzen. Die USA stellten der Ukraine diese Woche weitere Unterstützung in Aussicht. Sie wollen der Ukraine panzerbrechende Uranmunition zur Verfügung stellen. Moskau bezeichnet diese Entscheidung als „Zeichen der Unmenschlichkeit“. Der Einsatz von Uranmunition ist umstritten. Kritikerinnen und Kritiker fürchten Gesundheitsrisiken durch den Kontakt mit radioaktivem Uranstaub.

Blinken kündigte in Kiew zudem weitere US-Hilfen in Höhe von mehr als einer Milliarde Dollar (931,88 Mio. Euro) an. Etwa zwei Drittel davon seien Hilfe für das Militär und den Schutz der Zivilbevölkerung. Ob das ausreichend sei, um den Krieg zugunsten der Ukraine zu drehen, lässt Militärexperte Reisner offen. Er beschreibt das Dilemma der Ukraine, dass sie Unterstützung, die sie dringend brauche, immer wieder stückchenweise bekomme: „Es hätte einen Unterschied gemacht, wenn der Ukraine das F16-Kampfflugzeug schon mit Beginn der Offensive am 4. Juni zur Verfügung gestanden wäre.“