der griechische Regisseur Yorgos Lanthimos mit dem Goldenen Löwen der Filmfestspiele von Venedig
Reuters/Guglielmo Mangiapane
Frankenstein feministisch

Goldener Löwe geht an „Poor Things“

Der Goldene Löwe des 80. Filmfestivals Venedig geht an den Film „Poor Things“ des griechischen Regisseurs Giorgos Lanthimos. Das gab die Jury am Samstagabend bekannt. „Poor Things“ ist eine experimentelle Variation der Frankenstein-Geschichte mit Emma Stone in der Hauptrolle einer von den Toten auferstandenen Frau auf dem Weg in die Selbstbestimmtheit.

Lanthimos (bekannt für Filme wie „The Favourite – Intrigen und Irrsinn“, „The Lobster“ und „The Killing of a Sacred Deer“) wagt sich in seiner schwarzhumorigen Komödie „Poor Things“ gleich in zweifacher Hinsicht an literarischen Stoff, basiert der Film doch auf dem gleichnamigen Roman von Alasdair Gray, der wiederum mit der Frankenstein-Erzählung von Mary Shelley spielt.

In dem grotesken Märchen spielt Stone eine schwangere Frau, die sich auf der Flucht vor dem Missbrauch ihres Mannes umbringt. Der Wissenschaftler Godwin Baxter (Willem Dafoe) findet ihre Leiche, setzt ihr das Gehirn ihres ungeborenen Kindes ein und holt sie wieder ins Leben. Die wiederbelebte Frau wird Bella genannt und hat das geistige Alter eines Kleinkinds. Sie entwickelt sich aber stetig weiter, lernt, sich zu bewegen und zu sprechen. Schließlich entflieht sie der Enge ihres Schöpfers und begibt sich auf eine Reise durch Europa voller sinnlicher Genüsse und Abenteuer.

Stone „ist der Film“

Bella setzt sich über gesellschaftliche wie sexuelle Konventionen hinweg. Im Laufe der mit Horrorelementen durchzogenen Handlung gelangt sie zusehends zu echter Selbstbestimmung. Das gefiel nicht nur der Jury, sondern begeisterte auch das Publikum in Venedig. „Poor Things“ gilt ebenso als heißer Kandidat für einen Oscar.

Szene des Films „Poor Things“ mit Emma Stone
2023 20th Century Studios
„Poor Things“ begleitet Stones Bella mit schwarzem Humor auf dem Weg in die Selbstbestimmtheit

Lanthimos war bei der Preisverleihung für seine Hauptdarstellerin voll des Lobs. „Dieser Film ist vor allem die Hauptfigur Bella Baxter, dieses unglaubliche Wesen, und sie würde ohne Emma Stone, ein weiteres unglaubliches Wesen, nicht existieren“, sagte er. „Sie ist der Film, vor und hinter der Kamera.“ Stone war wie auch das restliche Schauspieler-Team von „Poor Things“ wegen des Hollywood-Streiks nicht nach Venedig gekommen.

Aktivistische Botschaften

Der große Preis der Jury, die zweitwichtigste Auszeichnung des Festivals, ging an den japanischen Regisseur Ryusuke Hamaguchi für seinen Film „Evil Does Not Exist“. Das Drama erzählt von den Bewohnern eines kleinen japanischen Dorfs, die im Einklang mit der Natur leben – bis eine Firma im Dorf ein glamouröses Camping-Ressort bauen will. Dagegen lehnen sich die Bewohnerinnen und Bewohner auf.

Der japanische Regisseur Ryusuke Hamaguchi und Schauspieler Hitoshi Omika mit dem Großen Preis der Jury bei den Filmfestspielen in Venedig
APA/AFP/Gabriel Bouys
Für die Erzählung eines Dorfes im Widerstand gegen das Kapital erhielt Hamaguchi (rechts) den großen Preis der Jury

Hamaguchis Film blieb dabei nicht das einzige ausgezeichnete Werk mit einer deutlichen gesellschaftlichen Botschaft. Den Silbernen Löwe für die beste Regie erhielt der italienischen Regisseur Matteo Garrone für sein Drama „Io capitano“. Der Film erzählt von zwei jungen Männern aus dem westafrikanischen Senegal, die nach Italien flüchten wollen und auf ihrer Reise grauenvolle Erlebnisse machen. Garrones Film stellte sich mit einer humanistischen Grundhaltung dezidiert gegen die Migrationspolitik der Regierung von Italiens Premierministerin Giorgia Meloni und der EU.

Der italienische Regisseur Matteo Garrone mit dem Silbernen Löwen für die beste Regie bei den Filmfestspielen in Venedig
APA/AFP/Tiziana Fabi
Garrones „Io capitano“ ist ebenso ein Statement gegen eine Festung Europa …

Ganz ähnlich tat dies die polnische Regisseurin Agnieszka Holland in ihrem Film „Zielona Granica“ („Green Border“). Sie schildert darin die menschenunwürdigen Bedingungen an der polnisch-belarussischen Grenze im Jahr 2021, wo Flüchtlinge zum politischen Faustpfand zwischen den Staaten wurden, und folgt einer syrischen Familie, die versucht, illegal in die EU zu gelangen. Für das Werk erhielt Holland den Spezialpreis der Jury.

Spezialpreis der Jury für die polnische Regisseurin Agnieszka Holland bei den Filmfestspielen in Venedig
Reuters/Guglielmo Mangiapane
… wie Hollands „Zielona Granica“

Der Preis für die beste Schauspielerin ging an Cailee Spaeny. In „Priscilla“ unter der Regie von Sofia Coppola spielt Spaeny die titelgebende Hauptfigur, die zeitweilige Ehefrau von Elvis Presley. Als bester Schauspieler wurde Peter Sarsgaard ausgezeichnet. Er spielt die männliche Hauptrolle in „Memory“, einem Drama von Michel Franco. Sarsgaard verkörpert darin einen Mann, der bereits relativ jung an Demenz erkrankt.

Festival der letzten Filme

Die Juryentscheidungen spiegelten damit über weite Strecken die Jubiläumsausgabe des Festivals wider. Diese war von Abwesenheiten, Abschieden und eben auch sehr deutlichen politischen Aussagen geprägt. Und wie schon in Cannes, wo im Mai Martin Scorsese, Ken Loach und Marco Bellocchio ihre womöglich finalen Filme vorstellten, waren nun auch in Venedig von vielen prominenten Filmschaffenden ihre wahrscheinlich letzten Filme zu sehen.

Sicher trifft das auf William Friedkin („Der Exorzist“) zu. Der Regisseur war nur drei Wochen vor der Premiere seines Films „The Caine Mutiny Court-Martial“ im 88. Lebensjahr gestorben. Die Verfilmung des berühmten Stoffes war nun sein erster Spielfilm seit über einer Dekade, ein fernsehhaft produziertes Gerichtssaaldrama mit einer überwältigenden Leistung von Kiefer Sutherland in jener Rolle des labilen Kapitäns, die Humphrey Bogart 1954 eine Oscar-Nominierung brachte.

Auch die umstrittenen Regisseure Roman Polanski und Woody Allen legten womöglich ihre letzten Filme vor, ebenso wie die bereits 90-jährige „Der Nachtportier“-Regisseurin Liliana Cavani, deren neuer Film „L’ordine del tempo“ zwar wenig Beifall fand, die aber schon bei der Eröffnung mit dem Goldenen Ehrenlöwen für ihr Lebenswerk ausgezeichnet wurde.

„Geheime Absprachen“ zwischen Filmen

Reizvoll an einem Festival sind nicht nur die einzelnen Werke, sondern die roten Fäden, die sich durch das Programm ziehen wie geheime Absprachen zwischen den Filmen. Auf den konventionellen, stringenten Wettbewerbsbeitrag „The Killer“ von David Fincher über einen Auftragskiller auf Rachefeldzug fungierte etwa Richard Linklaters fulminanter, witziger und romantischer „Hit Man“ als subversive Antwort.

„Hit Man“ handelt von einem Mann, der sich für die Polizei undercover als Killer ausgibt, um Menschen mit Mordabsichten zu überführen, und beginnt damit, das Berufsbild des Auftragskillers gleich als popkulturellen Mythos zu entlarven.

Ebenso spannend war die zweifache Untersuchung der Rolle der Künstlerinnenehefrau im Wettbewerb, in Bradley Coopers „Maestro“, der Leonard Bernsteins Partnerin Felicia Montealegre viel Platz einräumt, ebenso wie in Coppolas „Priscilla“ über Elvis Presleys Ehefrau.

Cailee Spaeny wird als beste Schauspielerin bei den Filmfestspielen von Venedig ausgezeichnet
Reuters/Guglielmo Mangiapane
Für ihre Darstellung von Priscilla Presley wurde Spaeny als beste Schauspielerin ausgezeichnet

Wie diese beiden Frauen unterschiedlich mit der Rolle an der Seite eines von der Welt bewunderten, promiskuitiven Musikers umgehen, wie verschieden das jeweilige Machtgefälle erzählt wird und wie beide Ehen auf unterschiedliche Weise problematisch sind, aber dann doch die Liebe andauert, tritt im Festival in einen bereichernden Dialog.

Kritische Auseinandersetzung mit „Festung Europa“

In der zweiten Festivalhälfte waren es dann vor allem aktivistische Filme, die das Programm prägten, mit Ava DuVernays „Origin“, dem respektablen Versuch, das Sachbuch „Kaste – Die Ursprünge unseres Unbehagens“ von Isabel Wilkerson einem großen Publikum näherzubringen, über die persönliche, von Verlusten geprägte Geschichte der Autorin.

Garrone und sein mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichneten „Io, capitano“ war nicht der einzige italienische Beitrag mit einer politischen Botschaft. Eine solche fand sich auch in Edoardo de Angelis’ Eröffnungsfilm „Comandante“ über einen U-Boot-Kapitän, der mit den Worten „Italiener tun das so“ Feinde aus dem Wasser retten ließ.

Noch klarer politisch war der am Ende mit dem Sonderpreis der Jury ausgezeichnete Film „Zielona granica“ von Holland. Vor allem in Hollands Heimatland schlug der Film hohe Wellen, der extrem rechte Justizminister Zbigniew Ziobro schrieb in einem Tweet: „Während des ‚Dritten Reichs‘ produzierten die Deutschen Propagandafilme, in denen Polen als Banditen und Mörder dargestellt wurden. Heute haben sie Agnieszka Holland, die das für sie tut …“ – Holland kündigte daraufhin an, Ziobro zu klagen, sein Tweet stelle eine Verleumdung dar.

Vom Lido zur Viennale

Nur bei manchen Filmen ist schon fix, wann sie in Österreich zu sehen sein werden. Wie Viennale-Festivaldirektorin Eva Sangiorgi gegenüber ORF.at sagte, bemühe sie sich um „Zielona granica“, ebenso um „Hit Man“. Ein Film, auf den sich das Viennale-Publikum bereits fix freuen kann, ist der Gewinner des Goldenen Löwen, Lanthimos’ „Poor Things“ und, wenn alles gut geht, auch Bertrand Bonellos „Beast“: „Das ist der Film, der mich in dieser Festivalausgabe am meisten überrascht hat, ein mutiges, unkonventionelles Werk“, so Sangiorgi.