So wies ein Höchstrichter das Argument der Regierung, die Mehrheit könne alles entscheiden und in Gesetze gießen, scharf zurück: Das sei ein Demokratieverständnis auf dem Niveau von Volksschülern. Im Kern geht es darum, ob Gesetze und Regierungsentscheidungen künftig der höchstrichterlichen Kontrolle entzogen werden.
Was auf den ersten Blick relativ einfach beantwortbar scheint – Gesetze im Verfassungsrang – ist in der israelischen Realität eine völlig andere Geschichte: Das Land hat keine Verfassung – dafür gab es von der Staatsgründung an nie die nötige Einigkeit zwischen den sehr diversen gesellschaftlichen Gruppen. Es gibt allerdings mehrere Verfassungsartikel, die künftig die Basis für eine Verfassung bilden sollen.
Beschlossen werden sie allerdings mit einfacher Mehrheit, nicht etwa mit Zweidrittelmehrheit wie in Österreich, was de facto die Zustimmung von Teilen der Opposition nötig macht. Außer dem Zusatz im Gesetz, dass es sich um einen Verfassungsartikel handelt, unterscheidet sich dieses in der Beschlussfassung durch das Parlament, die Knesset, in nichts von einem normalen Gesetz.
Gerichtspräsidentin Esther Chajut, seit Jahren ein Feindbild der rechten Parteien, betonte während der Verhandlung, die entscheidende Frage sei, ob das Gesetz „uns die Hände bindet, das öffentliche Interesse zu verteidigen“.
Einzige Kontrollinstanz
Faktisch ist das Höchstgericht die einzige Kontrollinstanz für die Exekutive, also die Regierung. Im Parlament wird – ähnlich wie in Österreich und anders als in den USA – grundsätzlich entlang der Parteilinien abgestimmt, und Gesetzesvorhaben werden überwiegend von der Regierung initiiert, nicht von den Abgeordneten. Auch gibt es keinen Föderalstaat, der die Macht einschränken würde.
Entscheidung über Kontrolle der Regierung
Eine der von der Rechtsregierung bereits beschlossenen Maßnahmen ist die Novelle des Verfassungsartikels „Rechtssprechung“, der das Justizwesen in Israel regelt. In der Novelle wird die Zuständigkeit des Höchstgerichts eingeschränkt. Konkret wird ihm eine Grundlage zur Aufhebung von Gesetzen und Anordnungen von Ministern – dass diese „verhältnismäßig sein müssen“ – entzogen. Das Gericht machte klar, dass es befürchtet, dass damit künftig die Kontrolle von Regierungsentscheidungen entscheidend eingeschränkt wird.
In vielerlei Hinsicht ist das aber eine Nebenfront. Im Kern geht es nämlich um die Grundsatzfrage, ob das Höchstgericht die Rechtmäßigkeit von Verfassungsartikeln prüfen und gegebenenfalls aufheben kann. Tatsache ist, dass das bisher noch nie geschehen ist, trotzdem bestand die Regierung auf dieser Einschränkung der Justiz.
Cupal (ORF) über Gerichtsanhörung
ORF-Korrespondent Tim Cupal spricht über die Beratungen der Höchstrichterinnen und Höchstrichter über den umstrittenen Umbau. Zudem berichtet er, ob es überhaupt eine Entscheidung geben kann, mit denen alle Seiten leben können.
Die Regierung vertritt vehement die Position, das Höchstgericht habe nicht die Autorität, die Novelle oder irgendeinen anderen Verfassungsartikel aufzuheben. Das Höchstgericht ist aber nun jedenfalls in der schwierigen Situation, über seine eigenen Befugnisse befinden zu müssen.
Schlagabtausch über Unabhängigkeitserklärung
Einer der spannendsten Momente war, als der Anwalt der Regierung, Ilan Bombach, betonte, das Höchstgericht habe keine juristische Grundlage, Verfassungsartikel aufzuheben. Die 15 Richterinnen und Richter – noch nie in der Geschichte Israels war für eine Anhörung das gesamte Gericht einberufen worden – wiesen Bombachs Argumentation in lebhaften Wortwechseln vehement zurück. Mehrere der Richter meinten, da in der Unabhängigkeitserklärung Israel als jüdischer und demokratischer Staat definiert sei, könne die Knesset auch keine Verfassungsartikel beschließen, wenn diese den jüdischen oder demokratischen Charakter des Staates einschränkten.
Als Bombach die Rolle der Unabhängigkeitserklärung herunterspielte und betonte, dieses habe keinerlei juristische Bedeutung, da sie von ein paar Dutzend nicht gewählten Menschen verfasst worden sei, brachte er das Höchstgericht sichtbar gegen sich auf. Was solle – angesichts des Fehlens einer Verfassung – denn dann die Grundlage für Gesetzgebung und Rechtssprechung sein, fragten die Richter den Regierungsvertreter. Als Bombach antwortete, die Unabhängigkeitserklärung könne niemals den Souverän einschränken, ermahnte in eine Richterin, die Unabhängigkeitserklärung nicht zu missachten.
Richter: Demokratieverständnis von Volksschülern
Ein anderer Richter verwies auf die für Demokratien nötige Wahrung von Minderheitenrechten und betonte: Die Vorstellung, die Mehrheit könne alles entscheiden, sei „ein Verständnis von Demokratie auf dem Niveau eines Verschönerungsausschusses in der vierten Klasse Volksschule“.
Justizminister Jariv Levin hatte dem Höchstgericht noch Dienstagfrüh, unmittelbar vor Beginn der Anhörung, de facto Machtmissbrauch vorgeworfen. Einige Vertreter der Regierung und Abgeordnete von Regierungsparteien kündigten an, die Entscheidung des Höchstgerichts nicht anerkennen zu wollen. Wenn die Regierung Höchstgerichtsurteile tatsächlich nicht anerkennen sollte, droht das den israelischen Rechtsstaat gegen die Wand zu fahren.
„Demokratie stirbt in kleinen Schritten“
Ein Richter mahnte, die Demokratie sterbe nicht mit einem Schlag, sondern in kleinen Schritten. Die Opposition warnt seit Monaten vor einer Entwicklung wie in Ungarn und Polen, wo die jeweiligen Rechtsregierungen als erste Maßnahme, um die eigene Macht möglichst langfristig abzusichern, die Justiz – etwa durch Änderung des Ernennungsmodus – weitgehend unter ihre Kontrolle gebracht haben. Ähnliches plant auch die israelische Regierung.
Für Lacher sorgte später Gilad Barnea, einer der Anwälte der Beschwerdeseite. Er hatte die Doktorarbeit eines der Höchstrichter, Usi Fogelman, aus dem Jahr 1984 ausgegraben. Er zitierte einen Abschnitt daraus, in dem Fogelman warnte, dass die Schwächung der Kontrolle der Verwaltung durch Gerichte letztlich zur Diktatur führen könne. Ihn und andere Vertreter der Beschwerdeführer wies das Gericht wiederholt darauf hin, dass ihre Argumente politisch und nicht legistisch seien und damit nicht zulässig.
Verweis auf VfGH-Ausschaltung 1934
Der Anwalt Gilad Sar verwies als warnendes Beispiel auf das Ende der Ersten Republik in Österreich: 1933 wurde das Parlament ausgeschaltet, und das austrofaschistische Regime wurde durch Regieren mit Ermächtigungsgesetzen errichtet. Das Verfassungsgericht wurde per Verordnung ausgeschaltet, obwohl zuvor 100 Anträge auf Prüfung solcher Verordnungen eingebracht worden waren.
Raum für politischen Kompromiss?
Die Entscheidung des Höchstgerichts wird nicht unmittelbar bekanntgegeben, das Gericht hat vielmehr Zeit bis Mitte Jänner, seine Entscheidung öffentlich zu machen. Erwartet wird, dass es keine rasche Entscheidung gibt – und das Gericht so der Politik die Chance verschafft, doch noch einen Kompromiss zu finden. Noch immer laufen Verhandlungen unter Vorsitz des Staatspräsidenten Jizchak Herzog, die aber äußerst zäh verlaufen und bei der keine Einigung in Sicht ist. Zu verfahren ist mittlerweile der politische Karren. Auch die Hoffnungen von Oppositionsanhängern, die Koalition könnte zerbrechen und eine Neuwahl bevorstehen, sind aus derzeitiger Sicht genau das: Hoffnungen – ohne wirkliche faktische Basis.