Zwei Mädchen mit ukrainischer Flagge auf einer Straße in Kiew
IMAGO/NurPhoto/Dominika Zarzycka
Sprache im Krieg

Ukrainisch als „geistige Waffe“

Neben all der Zerstörung und dem Leid, das der russische Krieg gegen die Ukraine anrichtet, hat sich im Land ein bemerkenswertes Gemeinschaftsgefühl entwickelt. Das wirkt sich auf zahlreiche Bereiche aus, unter anderem auch auf die Sprache: Denn infolge des Krieges geben mehr Menschen im Land an, bewusst Ukrainisch statt Russisch zu sprechen – Sprachkurse verzeichnen einen hohen Zulauf. Doch wieso? Die ukrainische Sprachforscherin Natalia Kudriawzewa spricht von einer „geistigen Waffe“.

Dabei ist der vielfache Schwenk vom Russischen zum Ukrainischen nicht neu. Bereits seit 2014 sei im Land eine Veränderung zu messen gewesen, sagen Fachleute unter Verweis auf Umfragen. Maßgeblich eingeläutet durch die proeuropäischen Maidan-Proteste, die darauffolgende russische Annexion der Krim sowie die russischen Angriffe im Donbas. Mit der vollumfänglichen Invasion habe sich ab Februar 2022 der Fokus auf die ukrainische Sprache im Land noch einmal deutlich verstärkt.

„Staat und Regierung haben damit nichts zu tun“

Sprachforscherin Kudriawzewa näherte sich dem Phänomen direkt an, denn sie führte Interviews mit denjenigen, die in den Sprachenzentren des Landes Ukrainisch lernen. Und die Bedeutung dieser Sprachenzentren und die Geschichte dahinter sind bemerkenswert: „Es ist ein rein zivilgesellschaftliches Projekt, getragen von Freiwilligen – Staat und Regierung haben damit nichts zu tun“, betont Kudriawzewa im Gespräch mit ORF.at.

Als Sinnbild für die zuletzt noch einmal deutlich gestiegene Bedeutung der Sprachkurse in der Ukraine dient etwa die jüngste Initiative „Jedyni“ (dt.: „Vereint“). Sie startete im April 2022, nach dem Beginn der umfassenden Invasion Russlands in der Ukraine. Hunderte Ukrainisch-Kurse wurden seitdem in allen größeren Städten abgehalten, für Geflüchtete zudem in mehreren EU-Ländern. Ende August seien allein bei „Jedyni“ insgesamt 100.000 Teilnehmende gezählt worden, so Kudriawzewa.

Ab 2014 stieg Nachfrage rasant

Dazu kommen jene Angebote, die es schon seit mehreren Jahren gibt – konkret seit 2014, als der Angriff Russlands auf die Ukraine begann. Das Angebot „Kostenlose ukrainische Sprachkurse“ entstand ebenfalls aus einer Freiwilligeninitiative heraus, inzwischen gibt es die Kurse in mehr als 25 Städten. Auch das Onlineangebot wurde erweitert – so war die Plattform „Je-mowa“ (dt.: „E-Sprache“) schon eine Reaktion auf die zunehmende Nachfrage von russischsprachigen Ukrainerinnen und Ukrainern.

Vor allem die Hunderttausenden Binnenvertriebenen infolge der exzessiven Zerstörung der russischen Besatzer im Osten und im Süden des Landes ließen die Nachfrage nach Kursen in der vergleichsweise sicheren Westukraine ab 2022 steigen. Aktive Lehrende und zusätzliche Freiwillige nahmen sich jenen an, die sich auch angesichts der starken Dominanz des Ukrainischen in den Zufluchtsorten der Amtssprache ihres Landes widmen wollten und ermutigten sie zum Erlernen.

Wissenschaftlerin Natalia Kudriavtseva
Staatliche Pädagogische Universität Krywyj Rih
Kudriawzewa forscht in der Ukraine zu Veränderungen im Sprachgebrauch

„Identifikation mit der Ukraine“

Doch was sind Beweggründe der vielen Menschen in der Ukraine, die ukrainische Sprache zu erlernen? „Sie wollen sich loslösen von allem Russischen – sie wollen zeigen, dass sie mit der ‚Russischen Welt‘ nichts gemein haben“, sagt Kudriawzewa, die im Zuge ihrer wissenschaftlichen Studie zwei Jahre lang mit Kursteilnehmenden im ganzen Land gesprochen hat. Es gehe stark um „Identifikation mit der Ukraine“.

Untermauert wird das durch Umfragen vom Dezember 2022, die auf Verschiebungen im öffentlichen Meinungsbild hindeuten. Verglichen wurden Zahlen von unmittelbar vor (Dezember 2021) und während der umfassenden Invasion (Dezember 2022). Durchgeführt wurde die Umfrage von der Stiftung Demokratische Initiativen (DIF), einem einflussreichen ukrainischen Thinktank, gut 2.000 Personen wurden befragt.

Umfragen zeigen Verschiebung

Die Frage nach der Muttersprache („Welche ist ihre Muttersprache?“) beantworteten 2021 demnach 77,4 Prozent der Befragten mit Ukrainisch und 19,7 Prozent mit Russisch. Die übrigen Befragten waren unentschieden oder gaben andere Sprachen an. Ein Jahr darauf fiel das Ergebnis deutlich stärker zugunsten Ukrainisch aus: Da lag die Verteilung bei 87,7 Prozent Ukrainisch und 9,9 Prozent Russisch, wobei der Rest wiederum andere Angaben machte.

Auch das Internationale Institut für Soziologie in Kiew (KIIS) hat ähnliche Umfragen durchgeführt und etwa gefragt, welche Sprache im Alltag gesprochen wird. Im Vergleich mit Zahlen aus 2012 kam heraus, dass sich infolge der Invasion in der Ostukraine 2014 insgesamt nur wenige vom Russischen abwandten. Zwischenzeitlich erhöhte sich der Anteil jener, die angaben, beides zu sprechen. Erst der Vergleich zwischen 2017 und der letzten Umfrage 2022 zeigte eine deutliche Verschiebung – hin zu Ukrainisch.

Doch hält die Messung per Umfragen möglicherweise Unschärfen bereit, wie Wolodymyr Kulyk von der Nationalen Akademie der Wissenschaften in Kiew (NAS) in einer aktuellen Publikation festhält – das betreffe insbesondere das Ausmaß des sprachlichen Wandels. Neben dem Faktor der Schwankungsbreite seien „erwünschte Antworten“ nicht auszuschließen, dass nämlich einige „eher ihre Wunschvorstellung angeben, als die reale Situation zu schildern“ oder „absichtlich Gewohnheiten verfälschen, die im Kontext des Krieges ‚politisch unkorrekt‘ geworden sind“, so Kulyk.

„Sie wollen von Putin nicht beschützt werden“

Doch agierten aktiv Ukrainisch-Lernende dessen ungeachtet aus einem zentralen Motiv heraus, wie Sprachforscherin Kudriawzewa festhält: „Sie wollen der Welt zeigen, dass sie keine Russen sind.“ Kreml-Chef Wladimir Putin selbst habe für einen „Anreiz“ in der Ukraine gesorgt, mittels seiner Erzählung, Russland müsse die Russischsprachigen in der Ukraine schützen.

Viele Studienteilnehmende hätten angegeben, dass ihre Motivation, von Russisch zu Ukrainisch zu wechseln, darin bestehe, Putin in seiner propagandistischen Rechtfertigung für den Angriff „zu widersprechen“, wie die Forscherin gegenüber ORF.at angibt. „Sie wollen von Putin nicht beschützt werden.“

Auch im Donbas oder auf der Krim, wo der Anteil der aktiv russischsprachigen Ukrainer vergleichsweise signifikant höher ist als in den übrigen Landesteilen, befinden sich Sprachenzentren. In den Oblast-Hauptstädten und darüber hinaus auch in mehreren kleineren Städten. In manchen Orten war aber aufgrund der immer intensiveren Kämpfe die Durchführung der Kurse nicht mehr aufrechtzuerhalten. Sie mussten aufgrund der schlechten Sicherheitslage verlegt werden.

„Unterstützung für jene im Schützengraben“

„Vor allem in den Städten der Ostukraine leben aufgrund der sowjetischen Industrialisierung und der damit verbundenen Ansiedlung Russischsprachiger viele, die Russisch als erste und Ukrainisch als zweite Sprache sprechen“, so Kudriawzewa. „Die Menschen sagten mir, es sei oft schwierig, dort jemanden zu finden, mit denen sie sich auf Ukrainisch unterhalten können.“ Auch das sei laut der Forscherin ein Antrieb, Kurse zu besuchen – um dort Ukrainisch sprechen zu können.

Generell diene die Sprache in der Ukraine im übertragenen Sinne als „geistige Waffe, die man in diesem Krieg benutzen kann“, wie Kudriawzewa sagt. „Jene, die in diese Sprachenzentren kommen und Ukrainisch lernen, kämpfen nicht an der Front. Aber sie äußerten das Gefühl, dass sie jene unterstützen, die in den Schützengräben liegen.“ Auch sie wollten zu jenen gehören, die sich gegen die Invasion zur Wehr setzen – „und das mittels der gemeinsamen Sprache – Ukrainisch“.

Selenskyj wechselte Sprache

Eine Inspiration für jene Ukrainer und Ukrainerinnen, die Ukrainisch lernen, ist auch Präsident Wolodymyr Selenskyj. Er wuchs russischsprachig auf, wechselte jedoch 2017 zum Ukrainischen, bevor er für sein nunmehriges Amt kandidierte. 2019 wurde das Sprachgesetz zuletzt novelliert, es war eine der letzten Amtshandlungen seines Vorgängers Petro Poroschenko und verpflichtete Schulen und öffentliche Orte, Ukrainisch zu verwenden.

Forscherin Kudriawzewa macht hier zwei verschiedene Richtungen fest: „Die Sprachgesetze wurden von oben verordnet, aber der Wille, Ukrainisch zu lernen, kommt von unten, aus der Gesellschaft.“