Menschen auf der Straße in Kiew, eine Mann mit ukrainischer Flagge und Fahnen
IMAGO/Sipa USA/Sopa Images
Korruption in der Ukraine

Bevölkerung erzwingt härteres Vorgehen

Neben dem russischen Angriffskrieg hat die Ukraine auch mit der grassierenden Korruption zu kämpfen. Sie ist im ukrainischen Alltag fast allgegenwärtig und spielt zudem in vielen kriegsentscheidenden Bereichen eine Rolle. Die Bekämpfung der Korruption ist unter anderem Voraussetzung für einen zukünftigen EU-Beitritt der Ukraine. Der Druck kommt dabei ganz entscheidend aus der Zivilbevölkerung. So wurde Präsident Wolodymyr Selenskyj zuletzt etwa zu einem Veto gegen einen umstrittenen Parlamentsentschluss gedrängt.

Konkret ging es um ein Gesetz, das ranghohe Staatsbeamtinnen und Staatsbeamte dazu verpflichtet, ihre Vermögensverhältnisse digital und öffentlich darzulegen. Es galt als wichtige Reform nach der Protestwelle auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz 2014/15 und als zentrales Mittel im Kampf gegen die Korruption – vor allem für Journalistinnen und Journalisten. Wegen des russischen Angriffskrieges wurde es 2022 ausgesetzt.

Nun wollte das ukrainische Parlament die Offenlegung wieder einführen, verfügte aber eine Sperre, die noch ein weiteres Jahr Geheimhaltung für diese Informationen vorsah. In der Öffentlichkeit hatte die Entscheidung für einen Aufschrei gesorgt. Viele Antikorruptionsaktivistinnen und -aktivisten in der Ukraine forderten daraufhin in einer Petition an Selenskyj, ein Veto gegen die umstrittene Entscheidung einzulegen.

Selenskyj mit Veto

Dem kam Selenskyj am Dienstag auch nach. „Die Erklärungen müssen öffentlich sein. Sofort. Nicht erst nach einem Jahr“, schrieb er auf Telegram. In seiner abendlichen Videoansprache meinte er weiter, dass es hier „nicht nur um die politische Verantwortung des Parlaments, sondern auch um unsere Beitrittsverhandlungen mit der EU“ gehe. Ukrainische Antikorruptionsaktivistinnen und -aktivisten begrüßten die Entscheidung und sprachen von einem „Sieg“ für die ukrainische Gesellschaft.

Ukraines Präsident Wolodymir Selenskyj
AP/Ritzau Scanpix/Thomas Traasdahl
Der ukrainische Präsident Selenskyj mahnte mit seinem Veto unter anderem die politische Verantwortung des Parlaments ein

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine hatte die EU der Ukraine im vergangenen Jahr den Status einer EU-Beitrittskandidatin verliehen. Vor dem Beginn von Beitrittsverhandlungen muss Kiew zunächst allerdings sieben Voraussetzungen der EU-Kommission erfüllen. Dabei geht es etwa um das Auswahlverfahren ukrainischer Verfassungsrichterinnen und -richter sowie eine stärkere Korruptionsbekämpfung – insbesondere auf hoher Ebene.

Wechsel im Verteidigungsministerium

Obwohl in der Zivilgesellschaft von einem „Sieg“ für die Ukraine gesprochen wird, ist die Korruption weiterhin in sehr vielen, oft kriegsrelevanten Bereichen, allgegenwärtig. Das zeigt auch ein Blick auf den internationalen Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International. Im Jahr 2022 landete die Ukraine dort auf Platz 116 von 180. Das Land machte damit im Vergleich zu 2021 – damals kam die Ukraine auf Platz 122 – zwar ein paar Plätze gut, schnitt innerhalb Europas mit Ausnahme Russlands (Platz 137) aber so schlecht ab wie kein anderes Land.

Beispielhaft dafür war auch der vor Kurzem vollzogene Wechsel an der Spitze des Verteidigungsministeriums. Mehrere mutmaßliche Korruptionsskandale rund um überteuerte Lebensmittelverträge und Winteruniformen brachten den international angesehenen Olexij Resnikow dazu, seinen Rückzug aus dem Ministerium bekanntzugeben.

Ukraines Verteidigungsminister Rustem Umerow
Reuters/Ukrainian Presidential Press Service
Mit dem neuen Verteidigungsminister Rustem Umjerow will Selenskyj einen Neustart schaffen

Selenskyj wolle damit eine „neue Herangehensweise und andere Formate der Zusammenarbeit mit den Soldaten und der Gesellschaft insgesamt“, wie er sagte. Hinweise, laut denen Resnikow persönlich in die Skandale involviert war, gab es nicht. Den Neustart wollte Selenskyj mit dem nunmehr ehemaligen Chef des staatlichen Vermögensfonds, Rustem Umjerow, schaffen. Bei seiner Einführung verkündete dieser „null Toleranz“ gegenüber der Korruption.

Ein Korruptionsskandal jagt den nächsten

In den letzten Monaten allerdings jagte in der Ukraine ein Korruptionsskandal den nächsten. Vor einigen Wochen erst wurde etwa der Oligarch und ehemalige Selenskyj-Förderer Ihor Kolomojskyj wegen des Verdachts auf Betrug und Geldwäsche festgenommen. Ein Gericht ordnete eine zweimonatige Untersuchungshaft für einen der einst reichsten Männer der Ukraine an. Selenskyj hatte sich daraufhin von Kolomojskyj distanziert.

Und auch im Mai kam es unter anderem zu Festnahmen im Zusammenhang mit Schmiergeldzahlungen an den obersten Richter Wsewolod Knjasjew. Knjasjew war damals wegen des Erhalts von umgerechnet zweieinhalb Millionen Euro in bar festgenommen worden. Medienberichten zufolge kam das Geld von einem in Frankreich lebenden Oligarchen, der die Vorwürfe bestritt.

Korrupte Zollbeamte

Doch auch bei einer der wichtigsten Einnahmequellen der Ukraine, dem Zoll, herrsche Korruption im großen Stil, wie die „Süddeutsche Zeitung“ („SZ“) schrieb. Bemerkbar mache sich das vor allem rund um den Hafen von Odessa. Ein dort ansässiger Unternehmer schätzte bereits 2018, dass 40 Prozent der beim Zoll eigentlich anfallenden Milliarden durch Korruption gestohlen wurden. Sogar bei Hilfslieferungen für die Ukraine sollen korrupte Zollbeamte von Hilfsorganisationen pro Lkw mit Hilfsgütern umgerechnet rund 470 bis 650 Euro für dessen Abfertigung verlangt haben.

Hafen von Odessa
AP/Kostiantyn Liberov
Auch bei Hilfslieferungen für die Ukraine sollen Zollbeamte, wie hier auf dem Hafen von Odessa, Bestechungsgelder verlangt haben

Und selbst Behörden, die eigentlich gegen Korruption vorgehen sollten, sind der „SZ“ zufolge von Korruption durchsetzt. Bemerkbar mache sich das vor allem dabei, dass auf eine Verhaftung oft keine Anklage oder Verurteilung folgt. 2021 ließ Selenskyj das Büro für wirtschaftliche Sicherheit (BEB) gründen, um gegen Wirtschafts- und Korruptionsverbrechen vorzugehen.

Mehreren NGOs, Parlamentariern und einem Unternehmer in Odessa zufolge würden Beamte dort seitdem systematisch Bestechungsgelder eintreiben. Oleksandr Lemenow, Leiter der Bürgergruppe „State Watch“, zufolge, würden mehr als 90 Prozent aller Ermittlungen des BEB nie ein Gericht sehen, sondern stattdessen zu einer Aufforderung, Bestechungsgeld zu zahlen, führen.

Freistellung von Kriegsdienstverweigerern

Auch Beamtinnen und Beamte von Militärverwaltungen und anderen Behörden würden sich Vorteile verschaffen. Zuletzt prangerte Selenskyj etwa die „systematische Korruption bei der medizinischen Freistellung von Kriegsdienstverweigerern“ an. „Es gibt Beispiele von Regionen, in denen sich die Zahl der Wehrdienstbefreiungen aufgrund von Entscheidungen der Ärztekommission seit Februar vergangenen Jahres verzehnfacht hat.“

Laut Selenskyj gehe es hier um klar „korrupte Entscheidungen“, um Bestechungsgelder zwischen 3.000 und 15.000 Dollar. Bereits Anfang August hatte der ukrainische Präsident alle regionalen Verantwortlichen für die Rekrutierung von Soldaten entlassen. Gegen zahlreiche Personen wurden Strafverfahren eingeleitet.

Selenskyj will Korruption härter bestrafen

Um der Korruption in Zukunft besser entgegentreten zu können, kann sich Selenskyj auch härtere Strafen vorstellen: Konkret ließ er mit Plänen, laut denen der Tatbestand der Korruption für die Dauer des Krieges mit Landesverrat gleichgesetzt werden solle, aufhorchen. Die ukrainische Gesetzgebung sieht für Korruption bisher unterschiedliche Strafen vor, von Geldstrafen bis zu vier Jahren Haft, in besonders schweren Fällen können es bis zu zwölf Jahre sein. Landesverrat hingegen wird mit 15 Jahren bis lebenslang bestraft.

Letztlich ist die Korruptionsbekämpfung neben der Aussicht auf einen EU-Beitritt auch innenpolitisch von Bedeutung für Selenskyj. Im kommenden Jahr sollen die nächsten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen abgehalten werden. Ob solche Wahlen aber tatsächlich möglich sind, ist fraglich. Laut Selenskyj bräuchte es dafür neben Gesetzesänderungen auch finanzielle Unterstützung aus dem Ausland sowie internationale Wahlbeobachterinnen und -beobachter.

Zudem können nach Einschätzung vieler Fachleute aus verfassungsrechtlichen Gründen während des Krieges keine Wahlen durchgeführt werden. So dürfen beispielsweise wegen des Kriegsrechts einige grundlegende Menschenrechte – wie die Rede- und Versammlungsfreiheit – eingeschränkt werden, was einer demokratischen Wahl widerspräche.