Menschen mit Transparenten mit der Aufschrift „PiS = drozyzna“ (PiS = gesalzene Preise) während einer PiS-Wahlveranstaltung
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Polen

Visaaffäre überschattet derben Wahlkampf

In Polen wird am 15. Oktober ein neues Parlament gewählt. Die rechtsnationale Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) liegt Umfragen zufolge zwar in Führung, muss aber um ihre Koalitionsmehrheit bangen. Die Partei geriet zuletzt bei mehreren Themen unter Druck, am schwersten wiegt eine Korruptionsaffäre in Polens Konsulaten: Menschen aus Afrika und Asien sollen massenweise Arbeitsvisa verkauft worden seien. Gleichzeitig hetzt die PiS im Wahlkampf gegen Migranten und Migrantinnen.

Am Donnerstag hatte die polnische Generalstaatsanwaltschaft bekanntgegeben, dass sie gegen sieben Personen wegen des Verdachts ermittelt, sie hätten gegen Bezahlung die Vergabe von Arbeitsvisa beschleunigt. Drei Personen wurden festgenommen. Die Staatsanwaltschaft sprach von Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe „mehrerer hundert Arbeitsvisa“.

Berichte polnischer Medien und Angaben der Opposition deuten dagegen auf ein sehr viel größeres Ausmaß hin. Oppositionsführer Donald Tusk von der liberalkonservativen Bürgerplattform (KO, Koalicja Obywatelska) nannte die Zahl von 250.000 Arbeitsvisa, die innerhalb von 30 Monaten in Afrika und Asien ausgestellt worden seien. Zwei Parlamentarier seiner Partei, die im Rahmen einer in Polen möglichen Abgeordnetenkontrolle Einblicke in Unterlagen des Außenministeriums nahmen, sprachen von 350.000 Visa.

Der polnische Oppositionsführer Donald Tusk
Reuters/Jakub Porzycki/Agencja Wyborcza
Tusk möchte wieder Ministerpräsident werden – die Visaaffäre könnte ihm in die Hände spielen

Personelle Konsequenzen hinter den Kulissen gab es schon Ende August: Der für konsularische Angelegenheiten zuständige Vizeaußenminister Piotr Wawrzyk wurde entlassen und verschwand von der Wahlliste der PiS. Zur gleichen Zeit wurde seine Abteilung von der Antikorruptionsbehörde CBA durchsucht. Am Freitag sagte Justizminister Zbigniew Ziobro, Wawrzyk sei nach einem Selbstmordversuch in ein Krankenhaus eingeliefert worden. In seiner Wohnung wurde ein Abschiedsbrief gefunden. Darin schreibt er laut polnischen Medien, er selbst habe nichts Illegales getan, andere hätten sein Vertrauen missbraucht.

Mehrfachvisa besonders begehrt – und teuer

Nach Berichten polnischer Medien soll Wawrzyk der Drahtzieher hinter dem System der korrupten Visavergaben gewesen sein. Häufig seien die Migranten und Migrantinnen aus Asien und Afrika auf der Basis ihres polnischen Visums im Schengen-Raum weitergereist – etwa nach Deutschland. Besonders begehrt seien Mehrfachvisa: Wer ein Mehrfachvisum für den Schengen-Raum hat, darf auch nach Mexiko einreisen und kann so in die USA gelangen. Den Angaben zufolge sollen Menschen in Indien an Zwischenfirmen bis zu 40.000 US-Dollar (rund 37.300 Euro) gezahlt haben, um in den Besitz eines polnischen Mehrfachvisums zu kommen.

Die oppositionelle polnische Zeitung „Gazeta Wyborcza“ kommentierte am Montag: „Die Visaaffäre stürzt die PiS in die Falle ihrer eigenen Propaganda und Lügen. Sie diffamierte Migranten als Bedrohung mit Parasiten und Keimen, als islamische Terroristen und Vergewaltiger. Gleichzeitig bekamen allein im Jahr 2022 Hunderttausende Menschen aus Afrika und Asien eine Arbeitserlaubnis in Polen. Seit Jahren werden die polnischen Konsulate vom Außenministerium aufgefordert, so viele Visa wie möglich für ausländische Arbeitnehmer auszustellen.“

Wahlveranstaltung mit PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski und weiteren PiS-Führungsmitgliedern
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PiS-Parteichef Jaroslaw Kaczynski verkörpert das erzkonservative, EU-skeptische bis -feindliche Polen

Außenminister sieht keinen Grund für Rücktritt

Polens Außenminister Zbigniew Rau wiegelte ab: „Ich fühle mich nicht mitschuldig, ich denke nicht daran, zurückzutreten, und es gibt keine Visaaffäre“, ließ er am Montag wissen. Auch Regierungschef Mateusz Morawiecki und PiS-Parteichef Jaroslaw Kaczynski warfen der Opposition und ihrem Spitzenkandidaten Tusk vor, die Affäre aufzublasen. Es handle sich höchstens um ein paar hundert Fälle, nicht um Tausende oder gar Hunderttausende.

Die deutsche Regierung will angesichts der Vorwürfe von der Regierung in Warschau nun Aufklärung. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) habe hierzu um ein Gespräch mit ihrem polnischen Amtskollegen, Mariusz Kaminski, gebeten, hieß es am Montag. Zugleich werde der polnische Botschafter in Deutschland um ein Gespräch mit dem Bundesinnenministerium gebeten. Bisher geht die Bundesregierung durch die Vergabe polnischer Visa nicht von direkten Auswirkungen auf Deutschland aus.

Sperre gegen EU-Asylkompromiss

Die polnische Opposition reagierte mit Empörung auf die Affäre. Tusk sagte, Kaczynski dämonisiere einerseits Migranten, andererseits hole er sie in „unkontrollierten Strömen“ ins Land. Der Skandal ist für die rechtsnationalistische Regierungspartei durchaus peinlich. Die PiS-Regierung macht nicht nur im Wahlkampf Stimmung gegen Migranten, sondern sperrt sich auch gegen den EU-Asylkompromiss, der eine verpflichtende Aufnahme von Flüchtlingen vorsieht.

Die KO kündigte jedenfalls an, im Falle eines Wahlsieges ein staatliches Tribunal einzuberufen, das Anschuldigungen gegen Mitglieder der Regierungspartei prüfen soll. Die Bürgerplattform wirft der PiS vor, demokratische Standards zu untergraben, indem sie die politische Kontrolle über die Gerichte ausweitet und das Staatsfernsehen in ein Propagandamagazin verwandelt. Der Plan gilt als Retourkutsche für ähnliche Überlegungen der PiS in Richtung Opposition – und führt die tiefe Spaltung des Landes vor Augen.

Deutschland wird zum Gespött gemacht

Die Wahlwerbung in Polen verlegt sich immer mehr darauf, den Gegenkandidaten schlechtzumachen, berichtete dieser Tage auch das ZDF. Wie vergiftet das Klima ist, zeigt etwa ein antideutscher Wahlkampfspot der PiS: Das Video, das die Partei vor einer Woche auf Twitter (X) veröffentlichte, zeigt zur Musik von Richard Wagners „Ritt der Walküren“ die Innenräume der deutschen Botschaft in Warschau. Ein fiktiver Botschafter greift zum Telefon und ruft Kaczynski an.

In holprigem Polnisch mit starkem deutschen Akzent erklärt der vorgebliche Diplomat, er wolle ein Gespräch mit Kanzler Olaf Scholz an Kaczynski durchstellen. Scholz wolle, dass das Rentenalter in Polen wieder erhöht werde, wie unter Tusk. Darauf Kaczynski: „Tusk ist weg, und diese Angewohnheiten sind vorbei.“ Dann legt er auf.

Ultrarechte im Aufwind

Bisher führte die PiS in Wahlumfragen mit 35 bis 37 Prozent. Die KO, die aus der konservativ-liberalen Bürgerplattform (PO) und kleineren Parteien besteht, kommt auf 29 bis 30 Prozent. Königsmacher könnte dann die Nummer drei sein – derzeit sieht es nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen dreier Parteien aus. Eine davon ist die ultrarechte Konfederacja unter Führung von Slawomir Mentzen.

Slawomir Mentzen, Ko-Vorsitzender der Rechtsaußen-Partei Konfederacja
Reuters/Cezary Aszkielowicz/Agencja Wyborcza.pl
Mentzen beteuert derzeit, er werde nie mit PiS zusammengehen – die Zukunft wird es weisen

2019 fasste Mentzen die fünf Ziele der Partei noch so zusammen: „Wir wollen keine Juden, Homosexuelle, Abtreibung, Steuern und auch keine Europäische Union!“ Davon versucht er sich mittlerweile zu distanzieren: „Das sind nicht meine Ansichten.“ Ukrainer, „die uns kulturell nahe sind“, dürften kommen. Aber Menschen „vom anderen Ende der Welt“ sollten nach drei bis sechs Monaten wieder ausreisen.