Vertreter der armenischen Gemeinschaft von Berg-Karabach
AP/Azerbaijan State News Agency AZERTAC/Roman Ismailov
Aserbaidschan

Gespräche über Eingliederung Bergkarabachs

Bereits am zweiten Tag nach der aserbaidschanischen Militäroperation in der Kaukasus-Region Bergkarabach ist in Aserbaidschan über die Eingliederung der Region verhandelt worden. Das berichteten staatliche aserbaidschanische Medien am Donnerstag. Von russischer Seite wurden Evakuierungen besonders gefährdeter Orte gemeldet. Armenien sieht keine akute Gefahr für die Zivilbevölkerung in der Region.

Von der aserbaidschanischen Nachrichtenagentur Azertag wurden Fotos von sechs an einem Tisch sitzenden Männern veröffentlicht, zumindest einer von ihnen ist ein Vertreter Bergkarabachs. Zuvor waren Aufnahmen veröffentlicht worden, die zeigten, wie die armenische Delegation in schwarzen Fahrzeugen zu den Verhandlungen in die Stadt Jewlach reist.

Begleitet wurden die Gespräche, die nach wenigen Stunden wieder beendet waren, von armenischen Vorwürfen, dass die Gegenseite die am Mittwoch unter Vermittlung Russlands vereinbarte Waffenruhe gebrochen habe. Es waren im Zentrum der Regionalhauptstadt Stepanakert Schüsse zu hören gewesen. Aserbaidschan wies die Vorwürfe zurück. An den Gesprächen nahm laut der russischen Nachrichtenagentur TASS ein Vertreter der russischen Friedenstruppen teil.

Gespräche über die Eingliederung Bergkarabachs
Reuters
Gespräche über die Eingliederung Bergkarabachs in Aserbaidschan

Noch viele Punkte offen

Gesprochen werden sollte über die Zukunft der rund 120.000 ethnischen Armenier und Armenierinnen in der international nicht anerkannten „Republik“ Bergkarabach. Eine endgültige Vereinbarung wurde am Donnerstag noch nicht erzielt. Es seien noch viele Fragen und Probleme offen, sagte ein Berater der selbst ernannten Regierung von Bergkarabach.

Armenien habe zwar einer Feuerpause zugestimmt, ungeklärt sei aber die Umsetzung der aserbaidschanischen Forderung, wonach die in Bergkarabach lebenden ethnischen Armenier auch ihre Waffen abgeben sollen. Erst seien Sicherheitsgarantien nötig, sagte der Berater. „Sie könnten uns jederzeit zerstören, einen Völkermord an uns verüben. Der Westen schweigt, Russland schweigt, Armenien schweigt. Was sollen wir tun?“, fragte der Berater in Richtung der anwesenden Medienvertreter.

Armenien: Keine akute Gefahr für Bevölkerung

Die armenische Regierung sieht aktuell keine akute Gefahr für die Menschen in der Region. „Zum jetzigen Moment ist unsere Einschätzung so, dass keine direkte Gefahr für die Zivilbevölkerung Bergkarabachs besteht“, sagte Regierungschef Nikol Paschinjan am Donnerstag bei einer TV-Ansprache.

Er wisse, dass etwa 1.200 bis 1.300 Menschen auf den Stützpunkt der dort stationierten russischen Truppen geflüchtet seien, um sich in Sicherheit zu bringen. „Wir sind auch bereit, mögliche Schritte zu ihrer Hilfe zu unternehmen, aber das Problem besteht im geschlossenen Latschin-Korridor“, klagte Paschinjan.

Gleichzeitig stellt sich Armenien Paschinjan zufolge auf die Ankunft Zehntausender Flüchtlinge aus der Region ein. „Wir haben Zimmer in Hotels reserviert, Unterkünfte vorbereitet“, sagte der Premier. „Wir haben Vorbereitungen getroffen, um mehr als 40.000 Familien aufzunehmen“, fügte er hinzu.

„Sie sind unsere Bürger“

Laut der aserbaidschanischen Präsidentschaft wurde ein weiteres Treffen vereinbart. Bereits einen Tag nach dem Militäreinsatz hatte Aserbaidschans Staatschef Ilham Alijew erklärt, dass sein Land die volle Kontrolle über die Region wiedererlangt habe. Die Bevölkerung dort solle nun integriert werden: „Sie sind unsere Bürger.“

Er habe nichts gegen sie, nur gegen ihre „kriminellen“ Separatistenanführer. Die Region solle zu einem „Paradies“ werden. Baku will eigenen Angaben zufolge eine „friedliche Wiedereingliederung“ des Gebiets. Armenische Kräfte begannen laut Alijew damit, ihre Waffen abzugeben und sich aus Bergkarabach zurückziehen.

Armenien: Weg zu Frieden „nicht einfach“

Armenien bestritt bisher, Waffen und Soldaten in Bergkarabach, das sich 2017 in Arzach umbenannt hatte, zu haben. Armenien, das die Behörden in Bergkarabach unterstützte, habe seit August 2021 keine militärischen Einheiten mehr in der Region stationiert, sagte Armeniens Regierungschef Paschinjan. Er ergänzte, dass Armenien „an der Ausarbeitung des Textes der Waffenstillstandserklärung in Bergkarabach“ nicht beteiligt gewesen sei.

Der Weg zu Frieden mit Aserbaidschan sei „nicht einfach, aber wir müssen ihn gehen“, sagte Paschinjan: „Man muss den Frieden schätzen und darf Frieden nicht mit Waffenruhe und Waffenstillstand verwechseln.“

Verbindungslinie offenbar weiter blockiert

Vor dem UNO-Menschenrechtsrat in Genf verurteilte Armenien den aserbaidschanischen Militäreinsatz als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und sprach von einer „ethnischen Säuberung“, die im Gange sei. „Armenien hat diesen Rat immer wieder darüber informiert, dass eine ethnische Säuberung bevorsteht. Heute ist sie im Gange“, sagte der Vertreter Armeniens, Andranik Howhannisjan.

„Die Zivilisten in Bergkarabach sitzen in einer Falle und haben keine Möglichkeit zur Evakuierung“, weil Aserbaidschan weiterhin die einzige Verbindungslinie nach Armenien blockiere. „Das ist nicht nur eine Konfliktsituation, das ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und muss als solches behandelt werden.“

Auch bezüglich der blockierten Transportkorridore nach Bergkarabach sei noch nichts Konkretes entschieden worden, zitierte die russische Nachrichtenagentur TASS Kreml-Sprecher Dmitri Peskow.

Vertreibung befürchtet

Die armenische Bevölkerung befürchtet eine Vertreibung aus alten Siedlungsgebieten. Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums brachten in Bergkarabach stationierte russische Soldaten bisher rund 5.000 Karabach-Armenier aus besonders gefährlichen Orten der belagerten Region. Zuvor hatte schon der Menschenrechtsbeauftragte der international nicht anerkannten Republik Bergkarabach, Gegam Stepanjan, von der Evakuierung mehrerer Ortschaften gesprochen.

Müller (ORF) über den Konflikt in Bergkarabach

Markus Müller aus der ORF-Auslandsredaktion spricht unter anderem darüber, ob der Militäreinsatz das Ende der armenisch besiedelten Region Bergkarabach bedeutet, und über eine mögliche Lösung des Konflikts.

Befürchtet wird eine Massenflucht. Auf dem Flughafen der Hauptstadt Stepanakert sollen Tausende Menschen ausharren, berichteten die Nachrichtenagentur Reuters und armenische Medien. In der armenischen Hauptstadt Eriwan protestierten Tausende Menschen gegen den Umgang der Regierung mit der Krise in Bergkarabach. Die Demonstrierenden versammelten sich am Mittwoch vor dem Büro von Regierungschef Paschinjan und blockierten die umliegenden Straßen. Sie warfen der Regierung vor, die mehrheitlich armenische Bevölkerung Bergkarabachs im Stich gelassen zu haben.

Der russische Präsident Wladimir Putin forderte Aserbaidschan auf, die Rechte der Armenier in Bergkarabach zu respektieren. Alijew entschuldigte sich laut Kreml für den Tod russischer Soldaten in Bergkarabach.

EU verlangt Sicherheitsgarantien

Am Donnerstag wird der Konflikt auch im UNO-Sicherheitsrat behandelt. Die EU fordert Sicherheitsgarantien für die in Bergkarabach lebenden Armenier. EU-Ratspräsident Charles Michel habe in einem Telefonat mit Alijew deutlich gemacht, dass dessen Land sicherstellen müsse, dass ethnische Armenier respektiert würden und eine Zukunft in Aserbaidschan hätten, sagte ein ranghoher EU-Beamter am Donnerstag.

Für diejenigen, die Bergkarabach verlassen wollten, müssten Bedingungen für eine sichere und freiwillige Ausreise geschaffen werden. Alijew habe eine internationale Vermittlung in dem Konflikt abgelehnt und bekräftigt, dass der Militäreinsatz gerechtfertigt gewesen sei. Michel bezeichnete die Mittel der aserbaidschanischen Regierung als schlicht inakzeptabel. Es habe bereits Diskussionen über mögliche Antworten der EU gegeben, so Michel, ohne auf Details einzugehen. Das Thema ist für Brüssel brisant, weil die EU die Gasgeschäfte mit dem Land weiter ausbauen will, um sich unabhängig von russischen Energielieferungen zu machen.

Berichte über mindestens 200 Tote

Bei der Militäroperation am Dienstag und Mittwoch starben nach Angaben lokaler Behörden 30 Menschen. Armenische Medien berichteten aber von mindestens 200 Toten und mehr als 400 Verletzten. Diese Angaben können nicht unabhängig überprüft werden.

Schon vor der jüngsten militärischen Eskalation war die Lage in Bergkarabach katastrophal, weil Aserbaidschan die einzige armenische Zugangsstraße seit Monaten blockierte und Lebensmittel und Medikamente knapp wurden. Für die Sicherheit auf der Route waren russische Friedenstruppen seit dem Waffenstillstand von 2020 zuständig. Diese gingen aber nicht gegen die Blockade des Korridors durch Bakus Truppen vor.

Karte von Bergkarabach
Grafik: APA/ORF; Quelle: APA

Russland galt traditionell als Schutzmacht Armeniens und hat in der Konfliktregion eigene Soldaten stationiert. Mittlerweile aber braucht Moskau seine Kämpfer in erster Linie für den Angriffskrieg gegen die Ukraine. Rückendeckung für Aserbaidschan kam aus der Türkei.