Eine Frau mit Telefon, 1976
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Neue Etikette

Telefonieren ist Silber, Texten ist Gold

Als der Deutsche Philipp Reis 1861 das „Telephon“ erfand, dachte wohl niemand, dass rund 160 Jahre später nahezu jede Person ein Handy bei sich tragen würde. Im Laufe der Zeit entwickelte sich auch die Etikette rund um das Telefonieren weiter, angesichts der Schwemme an digitalen Geräten gelten heute auch neue Regeln, etwa: lieber erst texten als anrufen und niemals Nachrichten auf einer Mobilbox hinterlassen.

Ahoy! Alexander Graham Bell, der Reis’ Erfindung weiterentwickelte und 1876 zum Patent anmeldete, wollte, dass sich die Menschen am Telefon mit einem Seemannsgruß melden. Mit diesem Wunsch setzte er sich trotz seiner Hartnäckigkeit nicht durch, stattdessen wurde das frische „Hello“ von Thomas Alva Edison für die Gesprächseröffnung beliebt.

Auf welche Art telefoniert werden soll, wurde also schon von Anbeginn diskutiert. Über die richtige Telefonetikette konnte zwar Adolph Freiherr von Knigge nicht urteilen, er starb vor Erfindung des Telefons, doch seine Nachfahrinnen und Nachfahren im Geiste entwickelten seither zahlreiche Benimmregeln für das Fernsprechen. Heute wird die Handyetikette in der kaufmännischen Ausbildung gelehrt, und Berater halten zum Thema Seminare ab.

Missverständnisse und Frustration

Die technologische Entwicklung aber läuft mitunter schneller, als Knigges Erben nachkommen. Das Sprechen mit der Smartwatch oder Sprachnachrichten, die in Echtzeit transkribiert werden, haben die Benimmpredigerinnen und -prediger der Welt noch kaum auf dem Programm. „Die ungeschriebenen Regeln des Telefonierens unterscheiden sich von Generation zu Generation stark, was auf allen Seiten zu Missverständnissen und Frustration führt“, so die „Washington Post“.

Die Zeitung befragte deswegen Fachleute und Menschen jeden Alters über ihre Ärgernisse im Umgang mit dem Telefon und schrieb eine Handlungsanleitung, „die jedem dabei helfen soll, im Jahr 2023 mit Anrufen klarzukommen“. Die Regeln seien freilich variabel, je nach Beziehung, Alter und Art des Anrufs. Je näher man jemandem stehe, desto weniger Disziplin sei nötig.

Erfinder des Telefons, Philipp Reis
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Philipp Reis gilt als tatsächlicher Erfinder des Telefons, er starb, bevor es seinen Siegeszug um die Welt antrat

Anruf mit Vorwarnung

Eine wichtige Regel ist demnach: nicht anrufen ohne Vorwarnung. Höfliche Gesprächspartnerinnen und -partner sollen erst eine Nachricht schreiben mit der Bitte um ein Telefonat, ansonsten könne man den Rezipienten oder die Rezipientin versehentlich in Stress versetzen. Bei diesen Kurznachrichten seien Wortlaut und Kontext von entscheidender Bedeutung. Nur „Ruf mich an“ zu schicken könne dringend erscheinen und noch mehr Stress verursachen.

Gehe es um ein bestimmtes Thema, solle das auch in der Nachricht abgebildet sein. Diese Benimmregel sei besonders bei Videoanrufen nötig. „Jemanden zu einem unerwarteten Zeitpunkt auf Video festzuhalten, kann für alle Beteiligten peinlich sein“, heißt es.

Gestrige Nachrichten

Mindestens genauso geboten sei das Vermeiden von Nachrichten auf der Mobilbox. Diese seien ein Artefakt aus der Zeit vor den Textnachrichten. Schriftliche Nachrichten seien jedenfalls vorzuziehen, wenn Informationen präzise und zeitnah kommuniziert werden müssten. Ausnahmen gelten demnach nur, wenn man Menschen anrufe, deren Stimme man gern höre oder wenn man ein Audioerlebnis teilen wolle, etwa ein Geburtstagsständchen. Auch für alle längeren Botschaften, die eine Stimme transportieren soll, sei eine Sprachnachricht die gebotene Form. Einen wirklichen Grund für die Schmähung der Nachrichten via digitalen Anrufbeantworter führte das Blatt allerdings nicht an.

Was du nicht willst, dass man dir tut

Weitere Regeln behandeln die Etikette bei Videoanrufen (stillhalten!) und die möglichst seltene Nutzung der Lautsprecherfunktion in der Öffentlichkeit (Kopfhörer!).

Es werden aber nicht nur Pflichten, sondern auch Rechte eingeräumt. So müsse man nicht unbedingt ans Telefon gehen, nur weil jemand anruft. „Wir alle haben die Kontrolle über unsere Telefone und können entscheiden, ob es der richtige Zeitpunkt ist, ans Telefon zu gehen“, wird die Etikettefachfrau Lizzie Post vom Emily Post Institute (dem US-Knigge-Äquivalent) zitiert. In unpassenden Situationen solle man lieber automatische SMS-Antworten senden, als das Telefon zu beantworten.

Form folgt Botschaft

Überhaupt müssten viele Gespräche gar nicht per Telefon erfolgen. Die Botschaft entscheide über die Form: „Wenn Sie versuchen, sich für die beste Kommunikationsmethode zu entscheiden, überlegen Sie zunächst, was Sie sagen möchten.“ Wenn Nuancen bedeutsam seien, etwa beim Ausdruck einer Meinung oder Emotion, so sei das Telefongespräch angebracht. Sachliches, kurz und trocken, funktioniere am besten schriftlich. „Niemand hat einen guten Streit per SMS“, sagt Post. „Ich verstehe, dass es sich manchmal besser anfühlt, per SMS zu streiten, weil man die Person nicht wirklich konfrontiert, aber am Telefon kommt man viel schneller durch.“

Abschließend wird festgehalten: Auch wenn das Telefonat seltener wird, tot ist es nicht. „Mit einer Person in Echtzeit zu sprechen kann Beziehungen stärken, die psychische Gesundheit verbessern und die Einsamkeit verringern“, so die „Washington Post“. Daher solle man auch weiterhin das gute Telefonat pflegen.