Flüchtlinge aus Bergkarabach
Reuters/Irakli Gedenidze
Rund 50.000 Flüchtlinge

Exodus aus Bergkarabach hält an

Der Exodus aus der Krisenregion Bergkarabach hält an. Nach Behördenangaben flohen seit der Militäroffensive Aserbaidschans in der Vorwoche mehr als 50.000 ethnische Armenierinnen und Armenier aus dem Gebiet. Das seien mehr als ein Drittel der Bevölkerung. Auf den Straßen bilden sich lange Autokolonnen.

Aserbaidschan hatte am Sonntag nach Monaten die einzige Straße aus Bergkarabach nach Armenien geöffnet. Zuvor hatten proarmenische Truppen ihre Waffen niedergelegt. Nach Angaben der armenischen Behörden vom Mittwoch trafen mehr als 50.000 Flüchtlinge in Armenien ein. Die meisten Vertriebenen trafen in der armenischen Stadt Goris ein, der ersten Anlaufstelle hinter der Grenze. In der 20.000-Einwohner-Stadt bildeten sich lange Schlagen vor Geschäften mit Telefonkarten.

Unter den Flüchtlingen befanden sich vor allem Frauen, Kinder und ältere Menschen. Teams von Ärzte ohne Grenzen bereiten sich darauf vor, Geflüchtete psychologisch zu betreuen, und sind bereit, die Hilfe anzupassen, wenn mehr Menschen kommen und sich der Bedarf ändert. „Die Menschen in dieser Region waren neun Monate lang isoliert und von lebenswichtigen Gütern, Nahrungsmitteln sowie medizinischer und humanitärer Hilfe abgeschnitten“, sagte Franking Frias, Einsatzleiter in Armenien.

Der Latschin-Korridor war seit Dezember 2022 blockiert. Das führte zu einem gravierenden Mangel an Gütern wie Lebensmitteln, Medikamenten, Treibstoff und anderen lebensnotwendigen Gütern. „Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Menschen, die das Gebiet verlassen wollen, eine sichere Ausreise aus Bergkarabach ermöglicht wird“, so Frias. Das Österreichische Rote Kreuz rief zum Spenden auf und stellte den armenischen Kollegen und Kolleginnen 30.000 Euro als Soforthilfe zur Verfügung.

Armenien verspricht Unterkünfte für Flüchtlinge

Nach Angaben der US-Nachrichtenagentur AP wurden am Dienstag stundenlange Staus auf den Straßen von Bergkarabach nach Armenien gemeldet. Auf Satellitenfotos waren lange Autokolonnen zu sehen. Viele würden die Nächte in ihren Autos oder in Bussen verbringen. Andere suchten am Straßenrand Holz, um Feuer zu machen und sich aufzuwärmen.

Satellitenfoto zeigt Fahrzeuge, die zur Armenischen Grenze fahren
APA/AFP/Satellite Image ©2019 Maxar Technologies
Seit Dezember 2022 war Latschin-Korridor blockiert, am Sonntag wurde er geöffnet

Die armenische Regierung versprach, allen Flüchtlingen eine Unterkunft zu besorgen. In der Ortschaft Kornidsor sei ein Auffanglager eingerichtet worden, teilte die Pressesekretärin des armenischen Regierungschefs Nikol Paschinjan, Naseli Bagdasarjan, mit.

Wie die russische Mediengruppe RBK berichtete, wurde ein Ex-Angehöriger der separatistischen Führung von Bergkarabach auf dem Weg nach Armenien festgenommen. Aserbaidschanische Sicherheitskräfte hätten den früheren „Minister“ Ruben Wardanjan festgesetzt, als er die Region verlassen wollte, meldete RBK unter Berufung auf dessen Ehefrau. Wardanjan, ein Milliardär und Investmentbanker, sei von November 2022 bis Februar 2023 Teil der Führung Bergkarabachs gewesen.

Grafik zu Bergkarabach
Grafik: APA/ORF

Baku erklärte sich im Rahmen einer Waffenruhe bereit, proarmenische Kräfte, die ihre Waffen niederlegen, nach Armenien ausreisen zu lassen. Wie die Nachrichtenagentur AFP jedoch aus aserbaidschanischen Regierungskreisen erfuhr, suchen die Grenzbeamten auch nach Verdächtigen für „Kriegsverbrechen“, die strafrechtlich verfolgt werden müssten. Unklar war, welche Vorwürfe gegen Wardanjan erhoben werden.

120.000 lebten in Bergkarabach

In Bergkarabach, das international als Teil Aserbaidschans anerkannt wird, lebten bisher knapp 120.000 ethnische Armenier und Armenierinnen. Seit Jahrzehnten war die Region zwischen den beiden Ex-Sowjetrepubliken Aserbaidschan und Armenien umstritten. Nach einem Krieg Anfang der 90er Jahre hatte Armenien die Kontrolle. Nach einem weiteren Krieg 2020 hatte Aserbaidschan Teile Bergkarabachs und besetzte aserbaidschanische Gebiete zurückerobert.

Karte zeigt Bergkarabach
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

Eriwan wirft Baku vor, eine „ethnische Säuberung“ in der Region zu planen, nachdem Aserbaidschan dort am 19. September eine großangelegte Militäroffensive gestartet hatte. Bereits einen Tag später mussten die proarmenischen Kämpfer von Bergkarabach eine Waffenstillstandsvereinbarung akzeptieren. Baku will die selbst ernannte „Republik Bergkarabach“ nun wieder vollständig in sein Territorium eingliedern.

Hunderte Tote auf beiden Seiten

Russland als traditionelle Schutzmacht Armeniens hatte die Aserbaidschaner bei ihrer Militäroffensive gewähren lassen. Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan machte Moskau deshalb bittere Vorwürfe. Russland warf Eriwan wiederum vor, mit seiner jüngsten Hinwendung zum Westen einen „großen Fehler“ zu begehen.

Autos auf dem Weg nach Armenien
Reuters/David Ghahramanyan
Die Straße nach Armenien ist voll

Bei der Militäroffensive wurden nach Angaben aus Baku vom Mittwoch 192 aserbaidschanische Soldaten und ein Zivilist getötet. Mehr als 500 weitere aserbaidschanische Soldaten seien zudem verletzt worden, erklärte das Gesundheitsministerium. Die proarmenische Seite hatte 237 Tote im Zuge der Kämpfe vermeldet. Somit wurden bei der Militäroffensive insgesamt mehr als 400 Menschen getötet.

Am Montag wurde zudem vermeldet, dass 68 Menschen bei einer Explosion einer Tankstelle starben. Sie standen Schlange, um ihre Autos vor der Abreise nach Armenien aufzutanken, teilte das Gesundheitsministerium von Armenien mit.

Internationale Beobachter gefordert

Am Dienstag kamen Vertreter Armeniens und Aserbaidschans auf Initiative der Europäischen Union in Brüssel zusammen. Die Gespräche zwischen den Nationalen Sicherheitsberatern der verfeindeten Länder im Beisein von Vertretern und Vertreterinnen Frankreichs und Deutschlands standen unter der Schirmherrschaft von EU-Ratspräsident Charles Michel.

Bereits Zehntausende aus Bergkarabach geflohen

Seit der Militäroffensive Aserbaidschans in der Vorwoche sind Zehntausende Menschen aus der Region Bergkarabach nach Armenien geflohen. Aserbaidschan öffnete am Sonntag nach Monaten die einzige Straße aus Bergkarabach nach Armenien.

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock forderte Aserbaidschan auf, internationale Beobachter in die Region zu lassen. US-Außenminister Antony Blinken hatte den autokratischen Präsidenten Aserbaidschans, Ilham Alijew, in einem Telefonat ebenfalls dazu aufgefordert, eine internationale Beobachtermission zuzulassen.