Eine Krankenpflegerin im Gespräch mit einem Patienten
APA/Hans Klaus Techt
Pflegebereich

Personalmangel als Großbaustelle

Der Bedarf steigt, die Lücke bei den Beschäftigten wächst: Die Personalsituation ist die Großbaustelle im Pflegebereich. Neben fairer Entlohnung brauche es Wertschätzung für die Arbeit der Pflegekräfte, sagt Gesundheitsökonomin Monika Riedel vom Institut für Höhere Studien (IHS). Der Bevölkerung rät sie zu stärkerer Eigenvorsorge, um einen möglichen Pflegebedarf gar nicht erst entstehen zu lassen.

Die Gesundheit Österreich GmBH (GÖG) ermittelte einen Bedarf von 76.000 zusätzlichen Personen in der Pflege, die Österreich bis 2030 benötigt. Die Rechnung stammt aus dem Jahr 2019, also vor der Pandemie. In der CoV-Zeit habe sich die Lage verschärft, so Riedel. Viele Pflegekräfte haben die Branche verlassen. Auf der anderen Seite kommen die geburtenstarken Jahrgänge zunehmend in ein Alter, in dem Pflegebedarf auftreten könnte.

„Eine schnelle Lösung für das Problem, auf das wir seit Jahren zugesteuert sind, gibt es nicht“, sagt IHS-Expertin Riedel gegenüber ORF.at. Die Regierung brachte eine zweiteilige Pflegereform auf den Weg. Darin enthalten sind insgesamt 38 Maßnahmen, die sich vom Pflegeberuf über die Ausbildung bis hin zur Verbesserung der Situation für Betroffene und deren Angehörige erstrecken. Die Stoßrichtung bewertet Riedel positiv. „Man muss von mehreren Seiten gleichzeitig ansetzen“, sagt die Gesundheitsökonomin.

Personalsuche auf mehreren Ebenen

Diese Prämisse gilt für Riedel auch bei der Personalsuche. Die Rekrutierung müsse auf mehreren Ebenen stattfinden. Klassische Ausbildungseinrichtungen wie etwa Fachhochschulen (FH) und Pflegeakademien sollten sich bemühen, verschiedenste Bevölkerungsschichten anzusprechen, „egal mit welchem nationalen oder ethnischen Hintergrund“, so Riedel. Zusätzliches Personal könne die Öffnung weiterer Ausbildungswege bringen, etwa der Pflegeausbildung mit Matura oder modulare Ausbildungen für Menschen, die Angehörige bereits gepflegt oder betreut haben.

ORF-Themenschwerpunkt

Der ORF widmet dem Gesundheits- und Pflegesystem die gesamte Woche lang einen Schwerpunkt im Fernsehen, Radio und online. Am Montag gehen die ORF-TV-Magazine ab 20.15 Uhr in ORF2 der Frage „Wie krank ist unser Gesundheitssystem?“ nach – mehr dazu in tv.ORF.at.

Das diplomierte Pflege- und Betreuungspersonal sollte sich auf die Aufgaben konzentrieren, für die es ausgebildet wurde, sagt Riedel. Für Tätigkeiten, die etwa in die Bereiche Soziales und Hilfe bei der Haushaltsführung fallen, brauche es mehr Unterstützung aus anderen Berufsfeldern. „Hier könnte etwa die Sozialarbeit eine stärkere Rolle bekommen“, so Riedel.

Wettlauf um Pflegekräfte

Beschäftigte aus dem Ausland spielen eine gewichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung des heimischen Pflege- und Betreuungssystems. Seit 2018 müssen sich ausländische Pflegekräfte wie Beschäftigte in anderen Gesundheitsberufen registrieren. 13 Prozent der diplomierten Pflege- und Betreuungskräfte in Österreich haben nach aktuellsten Zahlen ihren Abschluss im Ausland gemacht. Die Zahl variiert von Bundesland zu Bundesland. In Wien etwa liegt der Wert bei fast 25 Prozent.

In den vergangenen Jahren hat zwischen den reicheren EU-Staaten ein regelrechter Wettlauf um ausländische Pflegekräfte eingesetzt. „Da haben wir es uns im Laufe der Jahre nicht leicht gemacht“, sagt Riedel. „Österreich zeichnet sich nicht gerade durch eine besonders ausländerfreundliche Haltung in Politik und Gesellschaft aus.“

Ein Krankenpfleger in einem Krankenhaus in Wien
APA/Hans Klaus Techt
Die Personalsuche im Pflegebereich sollte auf mehreren Ebenen passieren, sagt Gesundheitsökonomin Riedel

Ähnlich äußerte sich kürzlich Sozialminister Johannes Rauch (Grüne). Es gebe in Österreich einen „Wettbewerbsnachteil mit anderen europäischen Staaten, weil wir in diesem Land 15 Jahre Politik gemacht haben, zum Teil jedenfalls, die so getan hat, dass alles, was von außen kommt und zuwandert, potenziell gefährlich und böse ist, das rächt sich jetzt“, sagte Rauch beim European Health Forum Gastein (EHFG).

Mehr als Deutsch- und Integrationskurse

Beim Anwerben ausländischer Pflegekräfte strebt Rauch eine stärkere Kooperation mit Deutschland an. Das Nachbarland sei Österreich etwa bei der Definition von Zielländern und dem dortigen Aufbau von Ausbildungsstrukturen einen wesentlichen Schritt voraus. „Wir müssen den Menschen einen Grund geben, warum sie ausgerechnet nach Österreich kommen sollen“, sagt Gesundheitsökonomin Riedel. Es brauche mehr als „Deutsch- und Integrationskurse“. Qualifikationsnachweise müssten von den zuständigen Stellen weiterhin solide überprüft werden, darüber hinaus sollten die bürokratischen Hürden für Pflegekräfte aus dem Ausland aber gering gehalten werden.

Allerdings sollte sich die Politik in diesem Bereich nicht zu viel versprechen. Trotz aller Bemühungen könnten weniger Arbeitskräfte als erwartet dem Ruf folgen, so Riedel. Sie plädiert dafür, sich bei der Suche auf Länder zu konzentrieren, die gezielt Menschen für den Pflege- und Betreuungsbereich im Ausland ausbilden.

In den östlichen EU-Staaten sei der Arbeitskräftemarkt bereits leergefegt. „Wer dort wanderungswillig ist und einen Pflegeberuf erlernt hat, ist zumeist schon in ein reicheres EU-Land abgewandert“, so Riedel. Um den eigenen Bedarf an Pflegekräften zu decken, rekrutiere etwa die Slowakei bereits Personen aus weiter östlich gelegenen Staaten.

Hinderliche Hierarchien

Ein Problem, nicht nur für ausländische Pflegekräfte, ortet Riedel in den bestehenden Hierarchien im Gesundheitssystem. „Ärztinnen und Ärzte haben oft noch einen großen Hierarchieabstand zu mehr oder weniger allen anderen Gesundheitsberufen“, erklärt die Gesundheitsökonomin. In Österreich sind Pflegekräfte in vielen Bereichen auf Entscheidungen des ärztlichen Personals angewiesen, sogar in Fragen, die rein die Pflege betreffen.

Migrantische Arbeitskräfte kämen dagegen häufig aus Systemen, „in denen sie viel selbstständigeres Arbeiten gewohnt und dafür ausgebildet sind“. Das sorge auf beiden Seiten für Frust: Die hiesigen Pflegerinnen und Pfleger bekämen nicht die Entlastung, die sie sich gewünscht hätten, und „die, die kommen, sind frustriert, weil sie das volle Berufsspektrum, für das sie ausgebildet sind, nicht ausüben dürfen“, so Riedel.

Eine Frage der Wertschätzung

Die vernünftige Entlohnung ist ein Faktor, um Arbeitskräfte im Pflegebereich zu halten – aber längst nicht der einzige, wie Riedel sagt. Mindestens genauso wichtig seien die Arbeitsbedingungen. Riedel kritisiert den teils hohen administrativen Aufwand. Das Pflegepersonal müsse sich auf seine Kernaufgaben konzentrieren können. Hier hofft Riedel auf die Digitalisierung, die während der CoV-Zeit einen Schub erhalten hat. Ganz allgemein sei eine bessere Abstimmung zwischen Gesundheits- und Pflegesystem vonnöten.

Lotsendienst durch die Krebstherapie

Dank besserer Diagnostik werden Krebserkrankungen früher und häufiger entdeckt. Ein größerer Teil der Behandlung erfolgt mittlerweile ambulant, was eine Veränderung der Berufsbilder in der Onkologie zur Folge hat – wie etwa die „Cancer Nurses“, die für Patientinnen und Patienten eine Art Lotsendienst durch die Krebsbehandlung sind.

Über allen diesen Punkten stehe aber die „Wertschätzung“ für die Beschäftigten. „Wir müssen als Gesellschaft viel stärker anerkennen, was diese Berufsgruppe und andere Berufsgruppen, die mit kranken und unterstützungsbedürftigen Personen zu tun haben, leisten“, plädiert Riedel.

„Müssen an unserer Selbstständigkeit arbeiten“

Trotz aller erreichbaren Verbesserungen im Pflegebereich braucht es laut Riedel die Mitwirkung der Bevölkerung. „Wir müssen an unserer eigenen Selbstständigkeit arbeiten“, sagt die Gesundheitsökonomin. Das Stichwort laute „Health Literacy“. Darunter versteht man das Finden, Beurteilen und Anwenden von gesundheitsrelevanten Informationen.

Im konkreten Fall bedeutet das laut Riedel: „Was kann ich für mich tun, wie komme ich zu einem Lebensstil, der nicht nur in Hinblick auf Krankheiten wie Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, sondern auch einem möglichen Pflegebedarf vorbeugt?“