Vertriebene auf dem Weg in die armenischen Stadt Goris
AP/Vasily Krestyaninov
Flucht aus Bergkarabach

Stadt in Armenien wird zur Anlaufstelle

Nach der Militäroffensive von Aserbaidschan sind seit vergangener Woche mehr als 65.000 Menschen aus der Krisenregion Bergkarabach geflohen. Damit hat die Hälfte der Armenier und Armenierinnen Bergkarabach verlassen. Zur Anlaufstelle für die Zuflucht wurde Goris. Die armenische 20.000-Einwohner-Stadt befindet sich hinter der Grenze. Ärzte ohne Grenzen ist bereits dort und bereitet sich auf weitere Ankünfte vor.

Aserbaidschan hatte am Sonntag nach Monaten die einzige Straße aus Bergkarabach nach Armenien geöffnet. Zuvor hatten proarmenische Truppen ihre Waffen niedergelegt. 65.036 Armenierinnen und Armenier aus Bergkarabach seien nach Armenien gekommen, sagte eine Sprecherin des armenischen Ministerpräsidenten Nikol Paschinjan Donnerstagfrüh. Die meisten Vertriebenen trafen in Goris in der südarmenischen Provinz Syunik ein. Dort bildeten sich lange Schlangen vor Geschäften mit Telefonkarten.

Die Nachrichtenagentur Associated Press zitierte eine 27-Jährige aus der Regionalhauptstadt Stepanakert, die mit ihrer Familie nach 28 Stunden in Goris ankam. „Wir waren sieben Personen in einem kleinen Auto“, sagte sie. „Das war eine furchtbare Reise, denn die Menschen sind in Panik und nervös.“ Für die lange Fahrt hätten sie Treibstoff verwendet, den sie für Notfälle gelagert hatten. Unter den Leuten befanden sich vor allem Frauen, Kinder und ältere Menschen.

Flüchtlinge bei ihrer Ankunft in Goris
Reuters/Irakli Gedenidze
Kinder flohen mit ihren Familien aus Bergkarabach und gelangten nach Goris

Ärzte ohne Grenzen passt Hilfe an

Teams von Ärzte ohne Grenzen bereiten sich darauf vor, Geflüchtete psychologisch zu betreuen, und sind bereit, die Hilfe anzupassen, wenn mehr Menschen kommen und sich der Bedarf ändert. „Die Menschen in dieser Region waren neun Monate lang isoliert und von lebenswichtigen Gütern, Nahrungsmitteln sowie medizinischer und humanitärer Hilfe abgeschnitten“, sagte Franking Frias, Einsatzleiter in Armenien.

Der Latschin-Korridor war seit Dezember 2022 blockiert. Das führte zu einem gravierenden Mangel an Gütern wie Lebensmitteln, Medikamenten, Treibstoff und anderen lebensnotwendigen Gütern. „Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Menschen, die das Gebiet verlassen wollen, eine sichere Ausreise aus Bergkarabach ermöglicht wird“, so Frias.

Das ebenfalls im Flüchtlingseinsatz befindliche Österreichische Rote Kreuz hat das Armenische Rote Kreuz in einem ersten Schritt mit 30.000 Euro Soforthilfe für Grundversorgung und Bargeldhilfe unterstützt. Laut Einsatzleiter Jürgen Högl geht es zunächst um die Registrierung und psychosoziale Betreuung, Erste Hilfe und Familienzusammenführungen.

Armenien verspricht Unterkünfte für Flüchtlinge

Nach Angaben der US-Nachrichtenagentur AP wurden am Dienstag stundenlange Staus auf den Straßen von Bergkarabach nach Armenien gemeldet. Auf Satellitenfotos waren lange Autokolonnen zu sehen. Viele würden die Nächte in ihren Autos oder in Bussen verbringen. Andere suchten am Straßenrand Holz, um Feuer zu machen und sich aufzuwärmen.

Satellitenfoto zeigt Fahrzeuge, die zur Armenischen Grenze fahren
APA/AFP/Satellite Image ©2019 Maxar Technologies
Seit Dezember 2022 war Latschin-Korridor blockiert, am Sonntag wurde er geöffnet

Die armenische Regierung versprach, allen Flüchtlingen eine Unterkunft zu besorgen. In der Ortschaft Kornidsor sei ein Auffanglager eingerichtet worden, teilte die Pressesekretärin des armenischen Regierungschefs Nikol Paschinjan, Naseli Bagdasarjan, mit.

Früherer Politiker Wardanjan verhaftet

Wie der aserbaidschanische Grenzschutz mitteilte, ist ein Ex-Angehöriger der separatistischen Führung von Bergkarabach auf dem Weg nach Armenien festgenommen worden. Der frühere „Staatsminister“ Ruben Wardanjan sei festgesetzt worden, als er die Region verlassen wollte, hieß es. Wardanjan, ein Milliardär und Investmentbanker, war von November 2022 bis Februar 2023 Teil der Führung Bergkarabachs („Republik Arzach“) gewesen.

Grafik zu Bergkarabach
Grafik: APA/ORF

Er sei in die Hauptstadt Baku gebracht worden, wo die Behörden über das weitere Vorgehen entschieden, so der Grenzschutz der staatlichen Nachrichtenagentur Azertac zufolge. In der Mitteilung des Grenzschutzes wird Wardanjan die illegale Einreise nach Aserbaidschan vorgeworfen. Ob es weitere Anschuldigungen gegen den 55-Jährigen gibt, ist unbekannt.

Wie die Nachrichtenagentur AFP aus aserbaidschanischen Regierungskreisen erfuhr, suchen Grenzbeamte nach Verdächtigen, die für „Kriegsverbrechen“ verantwortlich gemacht werden und die strafrechtlich verfolgt werden müssten.

120.000 lebten in Bergkarabach

In Bergkarabach, das international als Teil Aserbaidschans anerkannt wird, lebten bisher knapp 120.000 ethnische Armenier und Armenierinnen. Seit Jahrzehnten war die Region zwischen den beiden Ex-Sowjetrepubliken Aserbaidschan und Armenien umstritten. Nach einem Krieg Anfang der 90er Jahre hatte Armenien die Kontrolle. Nach einem weiteren Krieg 2020 hatte Aserbaidschan Teile Bergkarabachs und besetzte aserbaidschanische Gebiete zurückerobert.

Eriwan wirft Baku vor, eine „ethnische Säuberung“ in der Region zu planen, nachdem Aserbaidschan dort am 19. September eine großangelegte Militäroffensive gestartet hatte. Bereits einen Tag später mussten die proarmenischen Kämpfer von Bergkarabach eine Waffenstillstandsvereinbarung akzeptieren. Baku will Bergkarabach nun wieder vollständig in sein Territorium eingliedern.

Hunderte Tote auf beiden Seiten

Russland als traditionelle Schutzmacht Armeniens hatte die Aserbaidschaner bei ihrer Militäroffensive gewähren lassen. Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan machte Moskau deshalb bittere Vorwürfe. Russland warf Eriwan wiederum vor, mit seiner jüngsten Hinwendung zum Westen einen „großen Fehler“ zu begehen.

Flüchtlinge warten auf der Straße von Goris
APA/AFP/Alain Jocard
Die Stadt Goris wird zum Zufluchtsort für Tausende Armenier und Armenierinnen

Bei der Militäroffensive wurden nach Angaben aus Baku vom Mittwoch 192 aserbaidschanische Soldaten und ein Zivilist getötet. Mehr als 500 weitere aserbaidschanische Soldaten seien zudem verletzt worden, erklärte das Gesundheitsministerium. Die proarmenische Seite hatte 237 Tote im Zuge der Kämpfe vermeldet. Somit wurden bei der Militäroffensive insgesamt mehr als 400 Menschen getötet.

Am Montag wurde zudem vermeldet, dass 68 Menschen bei einer Explosion einer Tankstelle starben. Sie standen Schlange, um ihre Autos vor der Abreise nach Armenien aufzutanken, teilte das Gesundheitsministerium von Armenien mit.

Internationale Beobachter gefordert

Am Dienstag kamen Vertreter Armeniens und Aserbaidschans auf Initiative der Europäischen Union in Brüssel zusammen. Die Gespräche zwischen den Nationalen Sicherheitsberatern der verfeindeten Länder im Beisein von Vertretern und Vertreterinnen Frankreichs und Deutschlands standen unter der Schirmherrschaft von EU-Ratspräsident Charles Michel.

Bereits Zehntausende aus Bergkarabach geflohen

Seit der Militäroffensive Aserbaidschans in der Vorwoche sind Zehntausende Menschen aus der Region Bergkarabach nach Armenien geflohen. Aserbaidschan öffnete am Sonntag nach Monaten die einzige Straße aus Bergkarabach nach Armenien.

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock forderte Aserbaidschan auf, internationale Beobachter in die Region zu lassen. US-Außenminister Antony Blinken hatte den autokratischen Präsidenten Aserbaidschans, Ilham Alijew, in einem Telefonat ebenfalls dazu aufgefordert, eine internationale Beobachtermission zuzulassen.