Der österreichische Kanzler Karl Nehammer (ÖVP)
Reuters/Lisa Leutner
Nach scharfer Kritik

Nehammer rechtfertigt Videoaussagen

Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) hat auf die scharfe Kritik an einem Video, in dem er über Kinderarmut und Frauen in Teilzeit spricht, reagiert und seine Aussagen verteidigt. Er habe Themen angesprochen, die er für wichtig halte. „Wir arbeiten gerade für dieses Land, die anderen sind offenbar schon im Wahlkampfmodus“, konterte der Kanzler die Kritikerinnen und Kritiker.

Mit „Hast du schon die Diskussion auf Social Media um ein Video von mir gesehen?“ adressierte Nehammer seine Follower und Followerinnen auf Twitter (X) und verteidigte den Inhalt des Videos: „Ich stehe dazu, dass sich Leistung lohnen muss, und ich stehe dazu, dass Eltern eine Fürsorgepflicht für ihre Kinder haben.“ Und er bleibe dabei, dass Selbstbestimmung und Eigenverantwortung wichtig seien.

„Während andere Videos zusammenschneiden und verkürzen, lasse ich mir als Kanzler unser Österreich nicht schlechtreden“, sagte Nehammer unter Verweis auf die Antiteuerungsmaßnahmen, die Abschaffung der kalten Progression und die Erhöhung der Sozialleistungen. „Die Schlechtredner werden nichts besser machen“, so der Kanzler. Und weiter: „Wer davon spricht, dass es in Österreich keine warme Mahlzeit für Kinder gibt, der stellt dieses Land in ein schlechtes Licht.“

Österreich sei eines der reichsten Länder der Welt mit den höchsten Sozialleistungen. Die Armutsgefährdung in Österreich sei genauso gering wie 2017 – und damals habe es keinen Krieg, keine Energiekrise und keine Teuerung gegeben, so Nehammer. „Jedes Kind in Österreich muss eine warme Mahlzeit bekommen, und dafür tragen Vater und Mutter die Verantwortung.“ Dazu gehöre auch, dass ein Kind die Zähne geputzt hat und rechtzeitig ins Bett geht. Bei jenen Familien, die nicht zurecht kämen, greife das soziale Netz, ist Nehammer überzeugt.

„Nicht gesund, aber billig: Ein Burger bei McDonald’s“

Am Mittwochabend war ein Video auf Twitter aufgetaucht, das bei ÖGB, Caritas, der Opposition und dem grünen Koalitionspartner für Empörung sorgte. Das Video zeigt Nehammer in geselliger Runde mit Parteifreunden in Hallein (Salzburg) Ende Juli bei einer Funktionärsveranstaltung in Hallein (Salzburg). Dabei sagt der Kanzler, er habe mit „Linken“ die Diskussion geführt, wie es sein könne, dass die Menschen in Österreich immer weniger Geld hätten, sich aber die Teilzeitquote nicht erhöhe.

„Nicht einmal bei den Frauen, die keine Betreuungspflichten haben? Wenn ich zu wenig Geld habe, gehe ich mehr arbeiten“, sagte der Kanzler in dem Video. Dann sprach er über Kinderarmut: „Genau so schreit man: Ein Kind in Österreich bekommt keine warme Mahlzeit.“ Was ihn „am meisten dabei stört“, sei, dass man in Leserbriefen nirgends höre oder lese: „Was ist eigentlich mit den Eltern? Was heißt, ein Kind kriegt in Österreich keine warme Mahlzeit?“

Nehammer fragte die Anwesenden, ob sie wüssten, was die billigste warme Mahlzeit in Österreich sei – um die Antwort rasch selbst zu geben: „Sie ist nicht gesund, aber sie ist billig: ein Hamburger bei McDonald’s.“ Nehammer weiter: 1,40 Euro koste ein Hamburger, mit Pommes dazu seien es 3,50 Euro. Dazu meinte er: „Und jetzt behauptet wirklich einer ernsthaft, wir leben in einem Land, wo die Eltern ihrem Kind dieses Essen nicht leisten können (sic!).“ Höchstens könne man fragen, ob Burger und Pommes gesund seien, aber das sei eine andere Frage („Dann muss ich was anderes tun“).

„Dann sind wir in der DDR“

„Wenn wir uns in dieser Diskussion verlieren, und das ärgert mich besonders, weil es in den Medien überhaupt nicht stattfindet, dann reden wir von Staatswirtschaft“ – und weiter: „Das heißt, jeder Elternteil hat sein Kind beim Staat einzumelden, wir machen Kalorientabellen, wir schauen: Wie viel Essen kriegt das Kind, wie wird’s ernährt? Und dann sind wir in der DDR. So schaut die linke Welt aus“, so der Kanzler. Man müsse „mehr als wachsam sein“.

Man lebe in Österreich „in einem der besten Länder“, sagte der Kanzler und verwies darauf, dass man die Kaufkraft erhalten beziehungsweise trotz hoher Inflation ein Plus habe. „Ich kann das jedem erzählen, aber es ist jedem wurscht“, es heiße immer, man habe weniger Geld. „Mit dem muss ich leben in der Politik.“

„Ja, ja, ich bin bei dir, ich komm zu dem“, rief der Kanzler einem Zuhörer zu, der in die Rede hineinrief, er habe kein Problem damit, wenn jemand 30 Stunden arbeite oder 20, aber „ohne Subventionen von uns allen, die fleißig arbeiten“. Nehammers Antwort: „Was ist in Österreich real? Real ist, über all das hab ich mich mit dir gar nicht unterhalten. Warum? Weil dann kommt nämlich die Gewerkschaft her und die Wirtschaftskammer her und sagt: ‚He, putz di – Sozialpartnerschaft, Sozialpartnerschaft!‘“

ORF-Analyse des Nehammer-Videos

Andreas Bohusch aus der ZIB-Innenpolitik analysiert das Video und die darin getätigten Aussagen von Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP).

Grüne: „Bürgerliche Verrohung“

Bei einer Pressekonferenz am Donnerstag sagte Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) auf das Video angesprochen, er habe einiges von dem Video gehört, dieses aber noch nicht gesehen. „Ich werde mich dann ärgern, wenn ich es mir angeschaut habe, oder auch nicht.“ Klubchefin Sigrid Maurer schrieb auf Twitter, dass sie die Empörung über das Video „gut nachvollziehen“ könne.

Als zynisch bezeichnete es der grüne Sozialminister Johannes Rauch, Menschen in Not auszurichten, sie seien selbst schuld oder sollten ihren Kindern Fast Food servieren. „In der Regierung arbeiten zwei sehr unterschiedliche Parteien mit teils sehr unterschiedlichen Werthaltungen zusammen.“

Die grüne Frauensprecherin Meri Disoski sprach auf Twitter von „bürgerlicher Verrohung“. Jene, die es schwerer haben im Leben, „verdienen unseren Respekt, unsere Solidarität und Unterstützung statt Spott und Hohn“, sagte die grüne Menschenrechtssprecherin Ewa Ernst-Dziedzic.

Reaktionen zu Nehammer-Video

Aussagen von Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) zu Themen wie Kinderarmut, Frauen in Teilzeit und Sozialpartnerschaft sorgen für Empörung bei ÖGB und Caritas und breiter Kritik des grünen Koalitionspartners sowie der Opposition. Die Grünen sehen Zynismus, Verrohung und Realitätsferne des Kanzlers.

Babler: „Zeigt Geisteshaltung“

SPÖ-Chef Andreas Babler sagte, das Video zeige „viel von einer Geisteshaltung“. Die Österreicher hätten einen Kanzler verdient, der Menschen respektiert. „Ohne Menschen zu mögen, wird man in der Politik keinen Erfolg haben“, sagte Babler. Einmal mehr warnte er vor einer Regierung aus ÖVP und FPÖ.

Kritik kam von SPÖ-Frauensprecherin Eva-Maria Holzleitner: „Nehammer muss sich bei den Frauen entschuldigen. Wer leistet den Großteil der unbezahlten Arbeit in diesem Land? Viele Stellen u. a. nicht Vollzeit ausgeschrieben oder verfügbar. Die Liste der Gründe für Teilzeit ist lang. Faulheit dazuzuzählen ist eine Unterstellung und Frechheit!“

Kickl: „Für Job als Bundeskanzler ungeeignet“

Auch FPÖ-Chef Herbert Kickl kritisierte Nehammer scharf: „Immer dann, wenn Nehammer glaubt, unter Seinesgleichen zu sein, bricht bei ihm diese Mentalität durch, die man aus der Führungsmannschaft der ÖVP nur allzu gut kennt – Stichwort Pöbel! Ein Politiker, der derart empathielos, abgehoben, eiskalt ist und eine derartige Verachtung für die armutsgeplagten Menschen an den Tag legt, ist für den Job als Bundeskanzler ungeeignet.“

Für den Pöbel sei Fast Food gut genug, wenn er sich nicht mehr leisten könne, sagte die freiheitliche Sozialsprecherin Dagmar Belakowitsch. „Das Bild von armutsgefährdeten Menschen, Frauen und Alleinerziehenden, das Nehammer in diesem Video neuerlich zeichnet, ist menschenverachtend, herablassend, beschämend und einer Kanzlerpartei unwürdig“, sagte die Frauen- und Familiensprecherin Rosa Ecker.

NEOS: ÖVP hat „auch Familienkompetenz verloren“

Mit einem Video reagierte der stellvertretende NEOS-Parteichef Christoph Wiederkehr. Es gehe nicht nur um ein warmes, sondern um ein gesundes Mittagessen für Kinder, so der Wiener Vizebürgermeister auf Instagram: „Der Kanzler will offenbar jedem Kind einen Burger geben, wir NEOS wollen jedem Kind die Flügel heben. (…) Die ÖVP hat nach der Wirtschaftskompetenz nun auch die Familienkompetenz verloren.“

Zuvor nahm NEOS-Mandatarin Henrike Brandstötter via Twitter auf die Passagen zu Teilzeitarbeit von Frauen Bezug: „Erschütternd! Nehammer beklagt sich derb über Teilzeit arbeitende Frauen – als Karrierepolitiker bei der ÖVP, die seit Jahrzehnten keine Rahmenbedingungen für Frauen schafft, damit diese nicht vom Partner oder Staat abhängig sind.“

ÖGB-Vizepräsidentin Schumann empört

Die Gewerkschaft, die Nehammer im Video im weiteren Verlauf als größten Bremser bei der Rot-Weiß-Rot-Card bezeichnet, zeigte sich über die Rede des Kanzlers empört. „Die Sozialpartnerschaft hat einen entscheidenden Beitrag zur Bewältigung von Krisen geleistet, insbesondere durch Maßnahmen wie die Kurzarbeit. Die Behauptung des Kanzlers, dass die Sozialpartnerschaft ein Hindernis sei, ist für uns nicht nachvollziehbar. Sie ist ein Erfolgsmodell für unser Land und hat maßgeblich zu unserem Wohlstand beigetragen. Für uns sind die Aussagen des Kanzlers daher absolut unverständlich“, sagte Vizepräsidentin Korinna Schumann. Die Wirtschaftskammer wollte die Aussagen nicht kommentieren.

Auch auf Landesebene gab es Reaktionen, etwa vom Chef der SPÖ Niederösterreich, Sven Hergovich. Auf Twitter schrieb er: „Das Nehammer-Video ist ein Schlag ins Gesicht für alle jene, die nicht mit dem goldenen Löffel geboren wurden.“ Von Zynismus sprachen der Klubobmann der Grünen Oberösterreich, Severin Mayr, und der Landesparteichef der SPÖ, Michael Lindner – mehr dazu in ooe.ORF.at.

Landau: „Von Wirklichkeit keine Ahnung“

Caritas-Präsident Michael Landau schrieb auf Twitter: „In Österreich muss niemand verhungern oder im Winter erfrieren“, aber wer sage, „dass niemand hungert oder friert, hat von der Wirklichkeit der Menschen keine Ahnung“ – mehr dazu in religion.ORF.at.

Auch die Volkshilfe kritisierte Nehammer: „Wenn sich der Bundeskanzler der Republik Österreich hinstellt und den armutsbetroffenen Familien ausrichtet, sie sollen den halbwarmen Burger aus dem Fast-Food-Restaurant als adäquate Ernährung ansehen, dann ist das zynisch“, sagte Kinderarmutsexpertin Hanna Lichtenberger.

„Die gesundheitlichen Folgen von Armut sind eindeutig: Armutsbetroffene Kinder sind häufiger krank, das zeigt sich bereits im frühen Kindesalter. Wir wissen, Kinder brauchen eine ausgewogene Ernährung, und die ist jetzt schon für viel zu viele Familien mehr als herausfordernd.“ Kindliche Mangelernährung sei kein „Mythos“, so Lichtenberger.

Empörung nach Nehammer-Video

Über soziale Netzwerke hatte sich Mittwochabend ein Video verbreitet, das Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) bei einem Gespräch mit Parteifreunden zeigt. Aussagen zu Themen wie Kinderarmut, Frauen in Teilzeit und Sozialpartnerschaft sorgen für Aufregung. Die ÖVP bestätigte die Echtheit des Videos.

ÖVP steht hinter Nehammer

Die ÖVP bestätigte die Echtheit der Aufnahmen: „Es handelt sich um ein echtes, aber zusammengeschnittenes Video“, wie Puls24 aus der Partei zitierte. „Wir sind so wie der Bundeskanzler überzeugt, dass jedes Kind in Österreich eine warme Mahlzeit bekommen kann, wenn die Eltern ihre Verantwortung wahrnehmen, zumal wir die Familien wie nie zuvor unterstützen“, hieß es in einem Statement an den Sender.

Familienministerin Susanne Raab (ÖVP) sagte zur ZIB: „Ich bin durchaus irritiert über den Aufschrei“, wenn man Themen anspreche, wie dass sich Leistung lohnen solle oder man mehr verdiene, wenn man mehr arbeitet, oder dass Eltern den Rahmen für das Leben ihrer Kinder schaffen.

Zur Urheberschaft des Videos meldete sich am Donnerstagabend die ÖVP Salzburg zu Wort. Es sei von einem Besucher aufgenommen worden, „der es an Freunde und Gruppen weitergeleitet hat, weil er von den klaren Aussagen des Kanzlers zum Mittelstand, zu Leistung und Eigenverantwortung begeistert war“, hieß es. Kurz bevor das Video endet, gibt Nehammer dem Publikum im Übrigen noch eines mit: „Wir sind alle gelernte ÖVPler, wir wissen, was Leiden heißt.“