Flüchtlinge auf einem Boot in Lampedusa
Reuters/Yara Nardi
Rom mit Bedenken

EU-Asyldurchbruch mit Fragezeichen

Beim EU-Innenministertreffen in Brüssel hat Deutschland am Donnerstag seine Blockade beim letzten Baustein der EU-Asylreform – der Asylkrisenverordnung – aufgelöst. Es ist ein Durchbruch mit Fragezeichen: Am Nachmittag wurde nämlich bekannt, dass Italien überraschend um Bedenkzeit gebeten habe, um den neuen Kompromiss zu bewerten. Die spanische Ratspräsidentschaft strebt eine Einigung in den kommenden Tagen an.

Das EU-Innenministertreffen hatte Italiens Innenminister Matteo Piantedosi am Nachmittag bereits vorzeitig verlassen. „Der Innenminister evaluiert. Italien hat nicht Nein gesagt, wir haben um Zeit gebeten, um (den Kompromiss, Anm.) zu prüfen, auch in rechtlicher Hinsicht“, sagte Außenminister Antonio Tajani bei einem Besuch in Berlin. Mit der Krisenverordnung will sich die EU gegen eine neue Flüchtlingskrise wappnen.

Italienischen Medien zufolge verließ Piantedosi das Brüsseler Treffen mit seinen EU-Kollegen vorzeitig und reiste zurück nach Rom. Die an Berlin gemachten Zugeständnisse seien „bei der italienischen Regierung nicht gut angekommen“, schrieb etwa „La Stampa“. Rom könne deshalb vorerst nicht zustimmen.

Der spanische Innenminister Fernando Grande-Marlaska, der die Verhandlungen leitete, zeigte sich bei einer Pressekonferenz nach dem EU-Innenministertreffen hoffnungsvoll, dass in puncto Asylkrisenverordnung demnächst eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedsstaaten erzielt werden könne. Manche Details müssten aktuell noch ausgearbeitet werden. Wie Grande-Marlaska zeigte sich auch EU-Innenkommissarin Ylva Johansson sehr optimistisch, „dass wir in den nächsten Tagen eine allgemeine Ausrichtung für den Krisenmechanismus verkünden können“.

Streit mit Deutschland

Hintergrund ist offenbar der bereits länger schwelende Streit mit Deutschland über die Finanzierung von privaten Seenotrettungsorganisationen im Mittelmeer. Tajani warf den Nichtregierungsorganisationen vor, den „Menschenhandel“ nach Italien zu fördern, wie er bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sagte.

Deutschland hatte zuvor nach monatelangem Widerstand der Grünen den Weg für eine Einigung der EU-Staaten auf den Krisenmechanismus frei gemacht. Da Italien bei der öffentlichen Debatte nicht widersprach, hielten mehrere Diplomaten und Diplomatinnen die nötige Mehrheit der Mitgliedsländer zunächst für ausgemacht.

Karner: Verordnung „sehr intensiv diskutiert“

Österreich wollte sich nach Angaben von Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) nach derzeitigem Stand enthalten. Hinter den Kulissen dürften aktuell weitere Verhandlungen laufen, wie Karner indirekt in Brüssel bestätigte. Die Krisenverordnung sei „heute sehr intensiv diskutiert“ worden und werde „nach wie vor offensichtlich diskutiert“. Zwar könnte der Text auch bei einem italienischen Nein theoretisch die erforderliche Mehrheit bekommen, allerdings gilt es als politisch heikel, eines der am stärksten von Migration belasteten EU-Länder zu überstimmen.

Die deutsche Innenministerin Nancy Faeser
APA/AFP/John Thys
Die deutsche Innenministerin Nancy Faeser hatte zunächst noch von einem „hervorragend ausgehandelten Kompromiss“ gesprochen

Die deutsche Innenministerin Nancy Faeser (SPD) sprach zunächst trotz der scheinbaren Bedenken aus Italien von einem „hervorragend ausgehandelten Kompromiss“. Italien habe sich im Rat selbst nicht dagegen ausgesprochen. Sie zeigte sich zuversichtlich, dass es auf Botschafterebene zu einer Einigung kommen werde. Dass Deutschland jetzt doch zustimme, erklärte Faeser damit, dass laut dem letzten Kompromiss die Verfahren von Kindern und deren Familien an den Außengrenzen priorisiert behandelt werden sollen.

Mit Deutschlands Zustimmung gebe es endlich „einen Willen zur Mehrheit“ unter den Mitgliedsländern, sagte der spanische Innenminister Grande-Marlaska noch am frühen Nachmittag. Er übergab das Dossier den Ständigen Vertretern und Vertreterinnen der EU-Staaten in Brüssel. Sie sollen das endgültige Mandat für die nun folgenden Verhandlungen mit dem Europaparlament ausarbeiten.

Nach einer Einigung auf Ministerebene braucht es nämlich auch noch die Zustimmung des EU-Parlaments. Die EU-Kommission fungiert dabei als vermittelnde Instanz. Auf die Frage des ORF Brüssel, was eine Einigung beim Innenministertreffen bedeuten würde, meinte EU-Kommissar Margaritis Schinas: „Wenn das passiert, haben wir eine Chance, um die Einigung (auf den gesamten Asyl- und Migrationspakt, Anm.) vor der EU-Wahl im kommenden Jahr zu erreichen. Wir müssen den Demagogen und Populisten das Argument entziehen, dass Europa sein Migrationsproblem nicht lösen kann.“

EU-Parlament legte Verhandlungen auf Eis

Nachdem die EU-Mitgliedsstaaten es bisher nicht geschafft hatten, sich auf eine gemeinsame Position zur geplanten Krisenverordnung zu einigen, hatte das EU-Parlament die Verhandlungen zu anderen Teilen des Migrationspakts vorige Woche auf Eis gelegt.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte am Mittwoch zu einer zügigen Beilegung des Streits über die geplante Reform des Asylsystems aufgerufen: Dass es eine schelle politische Einigung brauche, zeige auch die fortgesetzte Instrumentalisierung von Flüchtenden durch Länder wie Belarus. Es sei wichtig, gemeinsame Regeln zu haben.

Die EU-Innenminister hatten im Juni Pläne für eine weitreichende EU-Asylreform beschlossen. Vorgesehen sind zahlreiche Verschärfungen, um irreguläre Migration zu begrenzen. Menschen aus Ländern, die als relativ sicher gelten, sollen künftig nach einem Grenzübertritt unter haftähnlichen Bedingungen in streng kontrollierte Aufnahmeeinrichtungen kommen. Auch engere Kooperationen mit Drittstaaten sind vorgesehen. Der von der EU-Kommission vorgeschlagene Asyl- und Migrationspakt umfasst insgesamt sieben Verordnungen und zwei Richtlinien.

Schutz für Ukrainer bis 2025 verlängert

Eine Einigung gab es an anderer Stelle: Ukrainische Kriegsflüchtlinge sollen noch bis mindestens März 2025 einen besonderen Schutz in der Europäischen Union genießen. Die EU-Innenminister einigten sich darauf, den temporären Schutzstatus um ein Jahr zu verlängern, wie aus einer am Donnerstag in Brüssel veröffentlichten Erklärung der Mitgliedsstaaten hervorgeht.

„Die Verlängerung des Schutzstatus bedeutet Gewissheit für die mehr als vier Millionen Flüchtlinge, die in der EU einen sicheren Zufluchtsort gefunden haben“, erklärte der amtierende spanische Innenminister Grande-Marlaska, dessen Land bis Ende des Jahres den Vorsitz im Ministerrat hat.