Bundeskanzler Karl Nehammer
APA/Helmut Fohringer
ÖVP

Fremdeln mit der Sozialpartnerschaft

Das Video, in dem Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) über Frauen in Teilzeit und Kinderarmut spricht, hat auch wegen der Bezeichnung der Sozialpartner als „größte Bremser“ für Empörung gesorgt. Die scharfe Kritik verwundert, gleichzeitig setze Nehammer damit den ÖVP-Richtungswechsel der letzten Jahre fort, sagen Fachleute gegenüber ORF.at. In Krisen spiele die Sozialpartnerschaft jedoch nach wie vor eine besondere Rolle.

Es sei „real“, dass man sich in Österreich über die hohe Teilzeitquote und Armut nicht unterhalten könne, „weil dann kommt nämlich die Gewerkschaft her und die Wirtschaftskammer her und sagt: ‚He, putz di, Sozialpartnerschaft, Sozialpartnerschaft!‘“, sagte Nehammer in dem Video. Man habe der Gewerkschaft vergangenes Jahr bei den Lohnabschlüssen ein Angebot gemacht, aber sie sei stur.

Sie sei auch der „größte Bremser“ bei der Reform der Rot-Weiß-Rot-Card gewesen. Das seien „die Blockaden, die wir lösen müssen“. Aber: „Das ist in der Verfassung verankert, das kannst nicht einmal mit einer einfachen Mehrheit beschließen, geschweige denn mit einer linksalternativen Partei als Koalitionspartner.“

Sozialpartnerschaft

Unter Sozialpartnerschaft versteht man die Zusammenarbeit wirtschaftlicher Interessenverbände untereinander und mit der Regierung. Sie umfasst die Bundesarbeiterkammer (BAK), den Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB), die Wirtschaftskammer (WKO) und die Präsidentenkonferenz der Landwirtschaftskammern (PRÄKO). Sie ist formal überparteilich, in der Praxis aber von Parteien dominiert.

Aussagen „verwunderlich“

Dass durch die Aussagen auch ÖVP-dominierte Bünde wie die Wirtschaftskammer (WKO) angegriffen werden, „das ist schon interessant“, sagte Susanne Pernicka, die an der JKU Linz unter anderem zur Sozialpartnerschaft forscht, gegenüber ORF.at. Und auch Politikwissenschaftler Peter Filzmaier bezeichnet die Ausschnitte als „verwunderlich“.

Gerade von einem Ex-Geschäftsführer des Österreichischen Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerbunds (ÖAAB) seien die Aussagen „kurios“, dort habe man schließlich laufend mit Sozialpartnern zu tun. Nehammer habe sich somit ein Stück weit von seiner Biografie gelöst, das sei strategisch ungewöhnlich und auch „nicht zu Ende gedacht“, so Filzmaier. In Tirol und Vorarlberg habe der ÖAAB eine Mehrheit in der Arbeiterkammer (AK), dort hätten die Aussagen bereits für Protest gesorgt.

Ursprünge in Großer Koalition

Dass unter ÖVP-geführten Regierungen Kritik an der Sozialpartnerschaft laut wird, ist gleichzeitig nicht neu – obwohl die Volkspartei maßgeblich an ihrer Entstehung beteiligt war. Ihr Ursprung geht auf die Zwischenkriegszeit zurück, in der paramilitärische Vorfeldorganisationen, der sozialdemokratische Schutzbund und die Heimwehren mit Naheverhältnis zu christlich-sozialen Politikern in blutige Auseinandersetzungen involviert waren, erklärt Pernicka.

In der Nachkriegszeit habe es von SPÖ und ÖVP dann Bemühungen gegeben, das „Wohl Österreichs als Gesamtes“ in den Blick zu nehmen. Wesentlich war die Einführung der Paritätischen Kommission für Preis- und Lohnfragen 1957, es ging aber auch um die Vereinbarung der unterschiedlichen Interessen von Arbeitgebern und -nehmern. „Das ist die Metaerzählung in Österreich: dass das friedliche Zusammenwirken von staatlichen Akteuren, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden letztlich zur Prosperität im Land beigetragen hat.“

Richtungswechsel unter Schüssel-Regierung

„Eine Veränderung ist seit der ÖVP-FPÖ-Regierung unter Wolfgang Schüssel Anfang der 2000er Jahre beobachtbar“, so der Politikwissenschaftler Emmerich Talos gegenüber ORF.at. „Hier wurde die Sozialpartnerschaft zwar nicht ausgeschaltet, aber der Einfluss auf politische Entscheidungen wurde wesentlich reduziert.“

In dieser Zeit seien kaum Gesetze im Muster der Sozialpartnerschaft verabschiedet worden. Insgesamt habe es merkbare Auswirkungen auf die Stellung der Sozialpartnerschaft, wenn eine Partei wie die FPÖ an der Regierung beteiligt ist. „Extrem“ sei das 2017/2018 gewesen: Unter dem damaligen Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) sei sie nicht nur eingeschränkt, sondern „vollends ausgeschaltet“ worden.

Kein einziges Gesetz sei in dieser Regierung unter Einbindung der Sozialpartner entstanden – ausgeschaltet gewesen seien aber nur die Arbeitnehmerverbände, die Unternehmerverbände hätten ihre Interessen voll durchsetzen können.

100. Sitzung der Paritätischen Kommission für Preis- und Lohnfragen, 1966
picturedesk.com/ÖNB-Bildarchiv/Kofler, Herbert
Die 100. Sitzung der Paritätischen Kommission für Preis- und Lohnfragen im Jahr 1966

Ein Grund dafür sei unter anderem, dass die Sozialpartnerschaft für Kurz der Inbegriff der Großen Koalition gewesen war, von der er sich stets zu distanzieren versuchte, erklärt Filzmaier. Zudem habe er Abhängigkeiten von Landes- und Teilorganisationen reduzieren wollen. Die Bundesregierung Kurz II war auch die erste in der Zweiten Republik, die ohne Mitglied mit biografischer Verbindung zu Kammern und Gewerkschaften auskam, schreibt der Politikwissenschaftler Laurenz Ennser-Jedenastik.

Verbündete in Krisenzeiten

Eine Änderung ergab sich mit der neuen Schwarz-Grünen Regierung ab 2020, die Sozialpartnerverbände werden erneut in politische Entscheidungen eingebunden. So sah die WKO gar eine „Handschrift der Wirtschaft“ im damaligen Regierungsabkommen. Nehammers Aussagen seien als „Fortsetzung der Kurz’schen Politik“ zu verstehen, sagt auch Pernicka mit Verweis auf die Reform der Sozialversicherungsträger.

Dennoch hätten sowohl die Arbeitgeber- als auch die Arbeitnehmerverbände während der CoV-Krise realpolitisch eine große Rolle gespielt. „Hier waren die Sozialpartner in einem Ausmaß einbezogen in die Ausarbeitung von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen wie Kurzarbeit, wie es das noch nie in der Zweiten Republik gegeben hat.“ Damit habe Kurz auch die Zustimmung der Bevölkerung absichern wollen.

Auch was den Bipartismus in der Selbstverwaltung betreffe – also die Arbeitgeber und Arbeitnehmer, ohne direkte Einmischung des Staates –, habe sich kein Bedeutungsverlust abgezeichnet. „Der hat sich bewährt und den kann man auch nicht einfach zerschlagen von heute auf morgen, die Kollektivvertragspolitik wird intakt bleiben.“

Abschaffung der Pflichtmitgliedschaft „nicht in Sicht“

Und auch der angedeutete Kampf gegen die „in der Verfassung verankerte“ Sozialpartnerschaft wäre nicht im Sinne der ÖVP. Zwar ist 2008 unter Alfred Gusenbauer (SPÖ) die „Achtung der Anatomie der Sozialpartnerschaft“ im Verfassungstext verankert worden, ob Regierungen bei arbeits- und sozialpolitischen Agenden die Sozialpartner einbeziehen oder nicht, würden sie aber freiwillig entscheiden, verweist Pernicka auf die Gesetzeslage.

Entscheidend für die Verankerung der Sozialpartner in der Verfassung sei vielmehr die Pflichtmitgliedschaft in den Kammern. Plane man tatsächlich deren Abschaffung, würde man sich als Regierung aber „in die Nesseln setzen“, die Zustimmung der Mitglieder sei in Befragungen stets hoch. „Das würde intern kein ÖVP-Parteichef überleben“, ist auch Filzmaier überzeugt. Die notwendige Zweidrittelmehrheit sei zudem „nicht einmal mit dem Fernglas in Sicht“.

Man habe hier womöglich in historischer Tradition der SPÖ durch Kritik an AK und ÖGB schaden wollen. Über Generationen hinweg sei das Motto „Was immer du tust, du musst sprachlich den Schwarzen bzw. Roten hauen“ strategisch logisch gewesen, denn zwischen ihnen habe sich jeder Wahlkampf entschieden, so Filzmaier. Das habe man auch nach dem Ende der Großen Koalition nicht abgelegt.

Kein „genereller Bedeutungsverlust“

Die Aussagen Nehammers könnten am ehesten mit Blick auf die nächste Nationalratswahl interpretiert werden, ist Politikwissenschaftler Talos überzeugt. Auch er sieht die Sozialpartnerschaft als wesentlichen Gestaltungsfaktor der Politik in Krisenzeiten, aber: „Sollte im nächsten Herbst eine schwarz-blaue Koalition kommen, wird die Sozialpartnerschaft als einer der wesentlichen Faktoren im politischen Entscheidungsprozess wohl wieder ausgeschaltet werden.“

Dass eine Pluralisierung der politischen Landschaft zu einer Schwächung der Sozialpartnerschaft führe, betont auch Pernicka von der JKU. So liege es auch an den Grünen, dass diese im aktuellen Regierungsprogramm kaum Erwähnung finde, da sie ein skeptisches Verhältnis gegenüber der Sozialpartnerschaft hätten – agiert diese doch neben der parlamentarischen Demokratie und „in Institutionen, wo die Grünen traditionell weniger Einfluss haben“.

Die Einschätzung eines generellen Bedeutungsverlustes teilt sie aber nicht. Zwar stimme es, dass die Sozialpartnerschaft seit dem Ende der Großen Koalition merklich weniger in die tripartistische Kompromissfindung, also das Zusammenwirken von Regierung und Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbänden, eingebunden wurde. Sozialpartnerschaft sei in Österreich aber „mehr als die Einbeziehung in die politische Gesetzgebung“.