Ukrainische Soldaten bereiten einen Angriff vor
Reuters
Militärexperten

Erfolg der Ukraine-Offensive umstritten

Seit mehreren Monaten dauert die ukrainische Gegenoffensive gegen die russischen Truppen an. Die Gebietsgewinne sind allerdings mehr als überschaubar. Vor allem aus den USA mehrten sich in den vergangenen Wochen ungeduldige Stimmen. Mittlerweile sind sich auch Militärexperten uneinig, wie die Fortschritte einzuschätzen sind.

Ein Stellungs- und Abnützungskrieg ohne signifikante Gebietsgewinne, so beschreiben viele Experten die bisherige Entwicklung des Krieges in diesem Jahr. Tatsächlich hatte die Ukraine ihre Vorstöße in Charkiw im Osten und in Cherson im Süden schon im Vorjahr gefeiert.

Laut „New York Times“ waren es 2023 nur 1.300 Quadratkilometer, über die die Kontrolle erobert wurde. Und davon wiederum nur ein Drittel, das entspricht in etwa der Fläche Wiens, konnte die Ukraine für sich zurückgewinnen.

Bundesheerexperte: Ukrainische Teilerfolge überschätzt

„Einzelne Verteidigungslinien der Russen werden verlustreich überwunden, aber es kommt bisher nie zu einem echten Dammbruch“, sagte nun auch der Ukraine-Experte des österreichischen Bundesheers, Markus Reisner, der dpa. „Es müssten alle Alarmglocken schrillen, dass nach 117 Tagen Gegenoffensive noch kein operativer Durchbruch gelungen ist.“

Während die USA sich sehr bewusst über die schwierige Lage seien, sei in der EU die Wahrnehmung des Geschehens unangemessen. „Europa ist dabei, den Moment zu verpassen, an dem wir es nicht mehr im Griff haben und die Situation zugunsten der Russen kippt“, so der Oberst mit Verweis auf Waffenlieferungen: Die Verbündeten der Ukraine hätten ihre Versprechen über Kriegsgerät nur teilweise erfüllt.

Gelieferte Waffensysteme als Crux

Phillips O’Brien, Professor für strategische Studien an der schottischen Universität St. Andrews, verweist per Twitter (X) allerdings ebenfalls darauf, dass der Westen praktisch nur solche Waffensysteme geliefert habe, die die Ukrainer in so einen Abnützungskampf drängen. Man habe Panzer geliefert, aber keine Kampfflugzeuge. Und die Zusage für die Kurzstreckenraketen ATACMS kam erst vor wenigen Tagen.

In den USA war die Debatte über Erfolg oder Misserfolg der ukrainischen Gegenoffensive schon Mitte August ausgebrochen, als die „Washington Post“ berichtete, dass man beim US-Geheimdienst skeptisch sei, ob die Ukraine ihr vorrangiges militärisches Ziel erreichen kann. Konkret geht es darum, aus der Gegend Saporischschja so weit in den Süden vorzustoßen, dass man bei Melitopol das Asowsche Meer erreicht – und damit einen Keil in russisch kontrollierte Gebiete treibt.

Schnellerer Vorstoß hochriskant

Einige Militärexperten hielten die Einschätzung für „Unsinn“, da ein schnelleres Vorgehen hochriskant wäre: Die russischen Verteidigungslinien bestehen aus Schützengräben und Minenfeldern. Letztere seien schwer zu entschärfen – es bestehe die Gefahr, während der Entminung beschossen zu werden. Die Ukraine, so einige Experten, habe sich dafür entschieden, die russische Artillerie dahinter zunächst auszuschalten, um dann quasi in Ruhe die Minenfelder zu überwinden – und das dauere zwar länger, habe aber eine weit höhere Erfolgsaussicht.

Mittlerweile wurde vermeldet, dass ukrainische Truppen mindestens die erste und zweite Verteidigungslinie in einigen kleineren Frontabschnitten überwunden hätten. Wie es nun weitergeht, ist aber – auch angesichts des nahenden Winters, der Kampfhandlungen mit schwerem Gerät beeinträchtigt – unklar.

Durchbruch nicht gleich Durchbruch

Das Durchbrechen von Verteidigungslinien sei aber jedenfalls noch kein Durchbruch, schrieb der finnische Militäranalyst Emil Kastehelmi Anfang der Woche auf Twitter. Ein wesentlicher Faktor, ob der Ukraine heuer noch ein wesentlicher Durchbruch gelinge, seien die russischen Verluste. Russland müsse wohl demnächst neue Kräfte mobilisieren.

Auch das unabhängige Nachrichtenportal Medusa rechnete vor einigen Tagen mit einer neuen Mobilmachung. Die blieb allerdings bisher aus: Russland zieht zwar, wie der Generalstab am Freitag mitteilte, ab 1. Oktober erneut mehr als 100.000 Wehrpflichtige ein. Die Soldaten würden regulär zum zwölfmonatigen Grundwehrdienst einberufen, aber nicht im Kriegsgebiet in der Ukraine eingesetzt.

Keine Vernachlässigung von Frontabschnitten

Die Strategieexpertin Natalija Bugajowa schreibt in einer Analyse für den US-Thinktank Institute for the Study of War, dass die Entscheidungen der Ukraine bei der Gegenoffensive zwar nicht fehlerfrei waren, man aus den Anfangsfehlern aber gelernt habe: „Die Entscheidung der Ukraine, den Druck auf die russischen Streitkräfte an der gesamten Front aufrechtzuerhalten, anstatt die gesamte ukrainische Kampfkraft auf eine Angriffslinie in Richtung Melitopol zu konzentrieren, was einige westliche Berater bevorzugten, war eine gute Anpassung.“

Etwa die Entscheidung, in Bachmut die Stellung zu halten und Gegenangriffe zu führen, habe die starken russischen Luftlandetruppen in der Gegend gebunden. Bugajowas optimistische Einschätzung mag zwar dem Umstand geschuldet sein, dass sie aus der Ukraine stammt, doch nicht nur sie sieht Gebietsgewinne als einzigen Indikator für militärische Erfolge.

Erfolgreiche Krim-Angriffe

Mehrere Militärexperten konzentrierten sich zuletzt auf die Erfolge der Ukraine bei ihren Angriffen auf strategisch wichtige Ziele auf der Krim, insbesondere die Attacke auf die Kommandozentrale der russischen Schwarzmeer-Flotte. Russland werde gezwungen, „seine Seestreitkräfte neu zu positionieren“, schreibt Bugajowa.

O’Brien schrieb in seiner wöchentlichen Substack-Analyse, dass die Ukraine dabei sei, den Krieg auf See zu gewinnen – „und das in bemerkenswerter Weise“, also ohne die Beteiligung von Kriegsschiffen. Er verwies in den vergangenen Monaten auch immer wieder darauf, dass die ukrainische Strategie häufig darin bestehe, russische Munitions- und Öldepots jenseits der Front anzugreifen und Nachschubrouten zu durchbrechen. Auch das erzeuge nicht sofort messbare Erfolge, stärke aber die eigene Position.

Russische Militärblogger wortkarg

Über Verluste hüllen sich beide Kriegsparteien in Schweigen, zu den Zuständen bei der russischen Armee waren bisher russische Militärblogger eine aufschlussreiche Quelle. Diese üben laut Tagesbericht des Institute for the Study of War mittlerweile in großem Maße Selbstzensur und veröffentlichen nur einen kleinen Teil ihrer Erkenntnisse zum Verlauf des Angriffskrieges gegen die Ukraine. Einige besonders kritische Blogger hätten eingeräumt, dass sie nur fünf bis 15 Prozent ihrer Informationen von der Front preisgäben, schreibt das in Washington ansässige Institut.

Ein Blogger habe angemerkt, dass bestimmte Informationen nicht mitgeteilt werden sollten und dass die Fähigkeit, im richtigen Augenblick zu schweigen, eine wichtige Eigenschaft sei. Ein anderer berichtete, dass russische Kommandanten ihren Vorgesetzten routinemäßig Beschwerden und existierende Probleme verschweigen würden. In den vergangenen Monaten hatten Militärblogger das russische Vorgehen mit teils scharfen Worten kritisiert und deutlich mehr Engagement gefordert.