Flüchtlinge aus Bergkarabach in der Nähe des Latschin-Korridor
IMAGO/SNA/Grigoriy Pechorin
Flucht aus Bergkarabach

100.000 Menschen erreichen Armenien

Zehn Tage nach dem aserbaidschanischen Sieg in Bergkarabach sind nahezu alle Armenier aus der Kaukasus-Region geflohen. 100.417 Menschen seien in Armenien registriert worden, teilte eine Sprecherin des armenischen Regierungschefs Nikol Paschinjan am Samstag mit – das sind fast alle der geschätzt 120.000 armenischen Einwohnerinnen und Einwohner der Region. In Eriwan gingen zahlreiche Menschen auf die Straße, um ihre Unterstützung mit Bergkarabach zu bekunden.

Nach Angaben eines früheren Behördenvertreters der selbst ernannten Republik Bergkarabach waren am Samstag die „letzten“ Flüchtlingsgruppen Richtung Armenien unterwegs. Höchstens „ein paar hundert“ Menschen, darunter hauptsächlich Beamte und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Rettungsdiensten und Freiwillige, befänden sich laut inoffiziellen Informationen noch in Bergkarabach, schrieb Artak Beglarjan auf Twitter (X). Eriwan beschuldigt Baku der „ethnischen Säuberung“ in der Region.

Aserbaidschan: Soldat von Heckenschützen getötet

Das aserbaidschanische Verteidigungsministerium kündigte seinerseits „Vergeltungsmaßnahmen“ an, nachdem ein aserbaidschanischer Soldat an der Grenze zu Armenien von einem Heckenschützen getötet worden sei. Der Soldat sei am Nachmittag auf aserbaidschanischem Territorium „vom Dorf Kut in Armenien aus“ beschossen und getötet worden, teilte das Verteidigungsministerium in Baku mit. Einheiten der aserbaidschanischen Streitkräfte würden „Vergeltungsmaßnahmen“ ergreifen.

Armenien wies den Vorwurf am Samstag umgehend zurück. Die Darstellung Bakus, wonach armenische Soldaten das Feuer auf aserbaidschanische Stellungen eröffnet hätten, entspreche „nicht der Realität“, schrieb das armenische Verteidigungsministerium im Onlinedienst Telegram.

Flüchtlinge aus Bergkarabach bei der Ankunft in Kornidzor
Reuters/Irakli Gedenidze
Menschen aus Bergkarabach bei der Ankunft an der Grenze Armeniens

Armenien bittet EU um Hilfe

Armenien bat die Europäische Union italienischen Angaben zufolge indes um Hilfe bei dem Zustrom Geflüchteter aus Bergkarabach. Armenien habe um Medizinbedarf und Notunterkünfte gebeten, teilte das Büro der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni am Samstag mit.

Am Grenzübergang Kornidsor berichtete ein AFP-Journalist von Krankenwagen, während die armenischen Grenzbeamten nach eigenen Angaben auf letzte Busse warteten. Währenddessen hofften in der nächstgelegenen Stadt Goris Hunderte erschöpfte Geflüchtete mit ihrem Gepäck auf dem zentralen Platz auf eine Unterkunft von der Regierung.

UNO-Mission angekündigt

Die Vereinten Nationen haben für das Wochenende die erste UNO-Mission seit über 30 Jahren für Bergkarabach angekündigt, vor allem für humanitäre Hilfe. Frankreich kritisierte diese „begrenzte“ und verspätete Genehmigung der UNO-Mission durch Aserbaidschan.

Sie sei erst nach der Massenflucht der Menschen „unter dem komplizenhaften Blick Russlands“ erteilt worden, erklärte das Außenministerium in Paris am Samstag. Zugleich bekräftigte es Frankreichs „Engagement zur Unterstützung der Souveränität und territorialen Integrität Armeniens, wohin diese Menschen geflohen sind“.

Flüchtlinge aus Bergkarabach in Goris
AP/Vasily Krestyaninov
Geflüchtete aus Bergkarabach in Goris, Armenien

Zuvor hatte Armenien den Internationalen Gerichtshofs (IGH) in Den Haag aufgefordert, Sofortmaßnahmen zum Schutz der Bewohner in Bergkarabach zu ergreifen. Der IGH solle sicherstellen, dass Baku die verbliebenen ethnischen Armenier nicht aus der Region vertreiben und die „sichere und schnelle Rückkehr“ derjenigen verhindern darf, die bereits geflohen sind.

Einer der längsten „eingefrorenen Konflikte“

Aserbaidschan hatte am 19. September eine großangelegte Militäroffensive in der Region gestartet. Bereits einen Tag später erklärten die dortigen proarmenischen Kämpfer ihre Kapitulation. Am Donnerstag dann wurde die Auflösung der selbst ernannten Republik Bergkarabach zum 1. Jänner 2024 verkündet. Bergkarabach, das überwiegend von Armeniern bewohnt war, werde damit „aufhören zu existieren“, hieß in einem Dekret.

Der Schritt markiert vorerst das Ende eines der längsten und scheinbar unlösbaren „eingefrorenen Konflikte“ der Welt – den das autoritär regierte Aserbaidschan schließlich für sich entschied, während Armeniens langjähriger Verbündeter Russland die aserbaidschanischen Truppen gewähren ließ.

Bergkarabach gehört völkerrechtlich zu Aserbaidschan, es lebten dort bisher aber überwiegend ethnische Armenier. Die Region hatte sich 1991 nach einem international nicht anerkannten und von der aserbaidschanischen Minderheit boykottierten Referendum für unabhängig erklärt.

Karte von Bergkarabach
Grafik: APA/ORF; Quelle: APA

Armeniens Regierungschef unter Druck

Aserbaidschan und Armenien stritten seit dem Zerfall der Sowjetunion um die Region und führten deshalb zwei Kriege, zuletzt 2020. Damals hatte Russland nach sechswöchigen Kämpfen mit mehr als 6.500 Toten ein Waffenstillstandsabkommen vermittelt, das Armenien zur Aufgabe großer Gebiete zwang.

Armeniens Regierungschef Paschinjan sieht sich nach dem Verlust der seit Jahrhunderten von Armeniern bewohnten Region verstärktem innenpolitischen Druck ausgesetzt. Am Samstag bekundeten rund 2.000 Demonstrierende in Eriwan ihre Unterstützung für den von Aserbaidschan inhaftierten Anführer der proarmenischen Kräfte in Bergkarabach, Ruben Wardanjan.