Russische Flagge auf einem Platz in Melitopol
Reuters/Alexander Ermochenko
Besetztes Melitopol

Gräuelberichte aus „größtem Gefängnis Europas“

Schon wenige Tage nach Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine ist die Stadt Melitopol im Süden des Landes von Russland eingenommen worden. Seit damals werden immer wieder Berichte über Verschleppungen, Folter und willkürliche Gewalt durch die russischen Besatzer bekannt. Das russische Exilmedium iStories beschreibt nun in erschreckenden Details einige Schicksale aus der besetzten Stadt.

Schon am dritten Tag des Krieges, am 26. Februar 2022, hatte Russland die Stadt mit rund 150.000 Einwohnerinnen und Einwohner eingenommen. Gegen die Besatzer kam es anfangs zu Demonstrationen: Menschen stellten sich unbewaffnet Militärfahrzeugen in den Weg, in Videos in sozialen Netzwerken waren Parolen wie „Nach Hause! Okkupanten! Faschisten! Mörder!“ zu hören. Dabei galt die Stadt, in der mehr als 90 Prozent aller Bewohnerinnen und Bewohner Russisch sprechen, vor dem Krieg als eher russlandfreundlich.

Knapp drei Wochen nach Besatzungsbeginn wurde Bürgermeister Iwan Fedorow entführt und verschleppt. Im Zuge eines Gefangenenaustauschs kam er einige Tage später wieder frei. Seit damals wohnt er in Saporischschja, berichtet aber auch bei Reisen in Europa über die Vorgänge in seiner Heimatstadt. Er erzählte, unter anderem in einem Bericht an die US-Delegation bei der OSZE, von willkürlichen Verhaftungen, Folter bei Verhören und Deportationen. Melitopol sei das „größte Gefängnis Europas“, sagte er heuer zu Jahresbeginn.

Widerstand gegen Besatzer

Ein Bericht der regimekritischen russischen Investigativplattform iStories bestätigt nun diese Angaben – und schildert exemplarisch das Schicksal einiger Ukrainerinnen und Ukrainer in der Stadt. Dem Widerstand der Bevölkerung begegneten die Besatzer nur kurz mit Ratlosigkeit.

Spätestens als sich die Stadt auch als eines der Partisanenzentren mit Sabotageakten gegen militärische Einrichtungen herausstellte, zeigten die Russen „ihre Zähne“, wie es im Bericht heißt: „Sie brachten Spezialdienste ins Spiel, öffneten Kommandanturen, eröffneten Folterzentren. Sie fingen an, Menschen zu verschleppen“, so Maxim, ein 29-jähriger Landschaftsarchitekt aus Melitopol, gegenüber iStories.

Entführungen an der Tagesordnung

Schon im März standen Entführungen auf der Tagesordnung. Bürgerinnen und Bürger richteten eine Hotline ein, bei der Menschen die Entführung von Angehörigen melden konnten. „Sie wurden beraten, wie sie sich verhalten sollten, an welche Stellen sie sich wenden sollten, und sie konnten auch Hilfe von einem Psychologen erhalten“, heißt es in dem Bericht.

Natalia, eine Mitarbeiterin der Hotline, schildert, dass zunächst Mitarbeitende der Behörden entführt worden seien. Gegen Herbst, als die Besatzungsbehörden russische Lehrpläne einführen wollten, hätten sie Schulleiter und Lehrkräfte verschleppt, die weiterhin nach ukrainischen Standards unterrichteten. Dann seien die Bäuerinnen und Bauern an der Reihe gewesen. Eine Zeitlang hätten sich die Besatzer danach auf Veteranen des Krieges im Donbas von 2014 bis 2018 konzentriert. „Und viele Geschäftsleute wurden für Lösegeld entführt“, so Natalia.

Mehrere Folterzentren in der Stadt

Bei der Hotline wurden seit Beginn des Krieges 311 Entführungen registriert, 107 Menschen würden sich zum derzeitigen Zeitpunkt weiter in russischen Händen befinden, bei 56 ist das Schicksal vollkommen unklar. Und das seien nur die dokumentierten Fälle. Bei der Hotline schätzt man die Dunkelziffer drei- bis viermal so hoch ein. Exilbürgermeister Fedorow schrieb in seinem Brief an die OSZE von mehr als 1.000 festgenommenen Zivilistinnen und Zivilisten binnen eines Jahres.

Er berichtete von fünf Orten in der Stadt, in der Menschen festgehalten, verhört und gefoltert werden. Das deckt sich mit den Recherchen von iStories, die nach Gesprächen mit Entführten und Angehörigen von Verschleppten im Bericht auch fünf konkrete Adressen anführen, zumeist ehemalige Polizeistationen.

Wochenlange Folter

Was in diesen Orten geschieht, schildern Betroffene und Angehörige in dem iStories-Bericht in grausamen Einzelheiten. Landschaftsarchitekt Maxim und seine Freundin Tatjana wurden mehrfach festgenommen, unter anderem weil sie Flugzettel zum ukrainischen Unabhängigkeitstag verteilten.

Der 29-Jährige wurde nach eigenen Angaben mit Schlägen und Stromstößen gefoltert. Er berichtet von Suiziden in den Foltergefängnissen. Schwer verletzt wurde er nach zwei Monaten Gefängnis an die Frontlinie gebracht. Irgendwie schaffte er es durch das umkämpfte Gelände auf ukrainisch kontrolliertes Gebiet.

Schutzgeld für Deportation

Ausreisen durfte laut dem iStories-Bericht auch der Geschäftsmann Sergej, Inhaber eines Reparaturservices. Man habe ihn zwingen wollen, die Seite zu wechseln und eine Funktion in der russischen Besatzungsverwaltung der Stadt anzunehmen, berichtet er. Als er sich nach stundenlangen Verhören und Schlägen weiterhin weigerte, sei ihm ein Ultimatum von zwei Tagen gesetzt worden, das russisch kontrollierte Gebiet zu verlassen – für eine Zahlung von 6.000 Dollar.

500.000 Rubel für Meldung von „Saboteuren“

Mehrere Betroffene äußern gegenüber iStories die Vermutung, denunziert worden zu sein. Immerhin 500.000 Rubel (derzeit rund 4.800 Euro) sollen die Besatzer bieten, wenn „Saboteure“ nach einer Meldung gefasst werden. IStories schildert mehrere Fälle, in denen Männer gefasst und gefoltert wurden, weil man sie – zu Unrecht – für ukrainische Spitzel gehalten hatte.

Schockierend ist der Fall des 23-jährigen Leonid. Der junge Mann wurde laut dem Bericht mehrmals festgenommen, ohne dass ein Grund angegeben wurde. Nach mehrwöchigen Verschwinden fanden ihn seine Eltern in einem Spital, abgemagert auf 40 Kilo. Kaum zu Hause angekommen, wurde er erneut verschleppt. Sein Schicksal ist seit damals unklar, seine Eltern stießen bei Anfragen auf eine Mauer des Schweigens, schildert iStories.

Ähnliche Berichte aus anderen besetzten Regionen

Ähnliche Berichte wie aus Melitopol gibt es auch aus anderen russisch besetzten Gebieten. Auf einer von der NGO Medieninitiative für Menschenrechte erstellten Landkarte jener Orte, an denen ukrainische Zivilisten de facto als Geisel festgehalten werden, befinden sich mit Stand von September rund 80 aktive Gefängnisse und Polizeistationen in derzeit von Russland besetzten Teilen der Ukraine sowie auf dem Territorium der Russischen Föderation. Das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR) listet im Sommer insgesamt 161 solcher, teilweise aber nicht mehr verwendeter Einrichtungen auf.

Melitopol als strategisches Ziel

Dass die russischen Besatzer in Melitopol besonders hart durchgreifen, ist wohl nicht nur den Sabotageakten aus der Bevölkerung in der Region geschuldet. Die Stadt gilt als strategisch enorm wichtig. Einerseits ist sie die logistische Drehscheibe für die russischen Truppen im Süden der Ukraine. Andererseits ist sie damit auch das Ziel der ukrainischen Gegenoffensive. Schaffen es die ukrainischen Truppen irgendwann, die Stadt einzunehmen, hätte man nicht nur Zugang zum Asowschen Meer, sondern würde auch die russische Armee westlich davon von Nachschubrouten abschneiden. Ob das allerdings gelingt, ist derzeit völlig unklar.