Dreizehnlinden klingt wie der Name einer Tiroler Gemeinde, ist aber eine Kleinstadt weit im Süden Brasiliens, im Bundesstaat Santa Catarina. In der Hoffnung auf ein besseres Leben verließen im Herbst 1933, mitten in einer schweren Wirtschaftskrise, knapp 100 Menschen Österreich, um ein Stück Tirol in den brasilianischen Urwald zu verpflanzen.
Anführer der Expedition war der ehemalige Landwirtschaftsminister Andreas Thaler. Seine Vision: eine alpenländische Kolonie von bis zu 30.000 Österreicherinnen und Österreichern. Das Projekt wurde vom damaligen Bundeskanzler Engelbert Dollfuß mit 500.000 Schilling – das wären heute etwa drei Millionen Euro – gefördert.
Menschen & Mächte: Tirol unter Palmen
1933 überqueren knapp 100 „Pioniere“ aus Österreich den Atlantik, um ein Stück Tirol in den brasilianischen Urwald zu verpflanzen. Anführer der Expedition ist Andreas Thaler, ein ehemaliger Landwirtschaftsminister mit einer skurrilen Vision: eine alpenländische Kolonie für bis zu 30.000 Österreicher im Süden Brasiliens: „Dreizehnlinden“, auf Portugiesisch „Treze Tílias“. Heute leben knapp 9.000 Menschen in Dreizehnlinden, rund 60 Prozent haben noch österreichische Wurzeln. Menschen & Mächte dokumentiert ein von „echten“ Bewohnerinnen und Bewohnern betriebenes „Alpen-Disneyland“ in Südamerika, ein einzigartiges Mini-Universum, in dem österreichische und brasilianische Kultur verschmolzen sind.
Geplante Kolonie in Übersee
Die Vorstellung, auch eine Kolonie in Übersee zu besitzen, war nach neueren Erkenntnissen der Geschichtsforschung ein Hauptbeweggrund für das austrofaschistische Regime, Thalers Vision zu unterstützen. Doch der Plan erwies sich als Illusion. Insgesamt nahmen nur knapp 800 Personen die mühsame Auswanderung auf sich.
Das Vorhaben, der Heimat Österreich mit landwirtschaftlichen Produkten aus Brasilien unter die Arme zu greifen, fand durch den „Anschluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland 1938 ein jähes Ende. Damit keine wehrfähigen Männer abhandenkommen, verboten die Nazis die Auswanderung nach Brasilien.
Schwierige Anfangsjahre
Die Anfangsjahre in Brasilien waren für die Auswanderer sehr hart, der Exodus ins vermeintlich gelobte Land wurde zum Existenzkampf. Es kam auch zu Auseinandersetzungen mit Einheimischen, die plötzliche Ansiedelung der Österreicher sorgte für Konflikte.
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg kam Dreizehnlinden, auf Portugiesisch Treze Tilias, wirtschaftlich nicht vom Fleck. Die schlechten Straßen und die weite Entfernung zum nächsten Hafen machten der Gründungsidee einen Strich durch die Rechnung. Ursprünglich wollten die Auswanderer Südfrüchte und Kaffee anbauen und diese exportieren.
Erst die Gründung der Molkerei Tirol 1974 brachte schließlich den Aufschwung. Das Unternehmen ist mittlerweile mit 1.000 Beschäftigten eine der größten Molkereien in Brasilien.
Das brasilianische Tirol – „O Tirol brasileiro"
Heute ist Dreizehnlinden eine wohlhabende Gemeinde. Das ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Idee, sich selbst zu vermarkten, erfolgreich umgesetzt wurde und wird. Mit den Jahren fanden die Dreizehnlindner heraus, dass man mit alpenländischem Charme, Volkstanz, Blasmusik und Holzschnitzkunst bei den Brasilianerinnen und Brasilianern punkten kann.
Liebe zu Holzschnitzkunst
In Dreizehnlinden, der weltweit größten Gemeinde von Auslandsösterreichern, sind Volkstanz, Blasmusik und Holzschnitzkunst Teil der Kultur.
Und so wurde ein Miniuniversum geschaffen, in dem Elemente der österreichischen und der brasilianischen Kultur verschmolzen sind. Die knapp 1.000 Gästebetten in Dreizehnlinden sind vor allem an den Wochenenden oft ausgebucht. Die Besucher kommen aus ganz Brasilien, nehmen oft tagelange Busreisen auf sich.
Schuhplattler und Tiroler Knödel
Besonders beliebt sind Aufführungen der mehreren Schuhplattlergruppen der Gemeinde. Großen Anklang findet auch die „österreichische“ Küche, wobei auf den Speisekarten die Grenzen zur deutschen Kochkunst fließend sind: Neben Klassikern wie Gulasch, Schnitzel und Tiroler Knödel werden auch Sauerbraten und Stelze angeboten.
Schuhplattler in Brasilien
In der brasilianischen Siedlung Dreizehnlinden sind Schuhplattler eine Touristenattraktion.
Der Gastronom Valter Felder, dessen Großvater 1934 aus Vorarlberg nach Dreizehnlinden ausgewandert ist, punktet mit einer besonderen Attraktion: Sein „Parque Lindendorf“ ist nicht nur ein Restaurant, in dem der vielseitige Musiker seine Gäste mit Akkordeon und Saxofon unterhält. Felder ist auch ein leidenschaftlicher Handwerker, er hat Dreizehnlinden in einem „Minimundus“ detailgetreu nachgebaut.
Dreizehnlinden in Miniform
Der Gastronom Valter Felder hat Dreizehnlinden in einem „Minimundus“ detailgetreu nachgebaut.
Keine „Insel der Seligen“
Eine „Insel der Seligen“ ist Dreizehnlinden aber keineswegs – und war es auch nie. „Gründervater“ Thaler war ein radikaler Antisemit und erster Obmann des Tiroler Antisemitenbundes. So hat der Ex-Landwirtschaftsminister (1926–1931) Kriterien aufgestellt, wer in „seine“ Kolonie kommen darf: Personen aus dem landwirtschaftlichen Milieu und Handwerker waren besonders begehrt. Darüber hinaus gab es die Vorgabe, dass die Auswanderer römisch-katholisch sein müssen.
Vorrangig richtete sich diese Regel gegen die Protestanten, zwecks Abgrenzung gegenüber den in der Region bereits ansässigen, mehrheitlich protestantischen, deutschen Siedlern. Aber auch Juden durften sich in Dreizehnlinden nicht ansiedeln. Als Thaler 1935 erfuhr, dass einer der Auswanderer ein „getaufter Jude“ war, verfasste er einen Beschwerdebrief an einen Mitarbeiter in Innsbruck und ermahnte ihn: „Bitte von dieser Rasse keine Nachfolger, mit ‚einem Hausjuden’ werden wir schon noch fertig werden."
Politik als „Privatsache“
Offenem Antisemitismus und Rassismus begegnet man heute in Dreizehnlinden nicht. Auffallend ist allerdings das Wahlverhalten der Dreizehnlindner. Bei den Präsidentenwahlen vor einem Jahr haben 51 Prozent der Brasilianerinnen und Brasilianer für Lula da Silva gestimmt. Der Sozialdemokrat setzte sich damit knapp gegen Amtsinhaber Jair Bolsonaro durch. Der ultrarechte Populist erreichte landesweit 49 Prozent. In Dreizehnlinden stimmten aber 78 Prozent für Bolsonaro. Über ihr Wahlverhalten sprechen die sonst so leutseligen und offenen Dreizehnlindner in Interviews gar nicht gerne, entsprechende Fragen werden vorwiegend als „Privatsache“ abgetan.
Thalers rätselhafter Tod
Möglicherweise werfen die dunklen Seiten des Gründervaters und die politische Ideologie der 1930er Jahre also doch einen Schatten auf die Gegenwart. Rätselhaft ist bis heute der Tod von Thaler. Im Juni 1939 kam der damals erst 55-jährige bei einem Hochwasser in Dreizehnlinden ums Leben. Offiziell war es ein Unfall. Doch die Gerüchte, dass jemand Thaler ermordet haben könnte, gibt es noch immer.
Dreizehnlinden hat sich in wesentlichen Punkten nicht im Sinn von Thaler entwickelt. Thalers Vorgabe, die Siedler mögen unter sich bleiben und nur Deutsch sprechen, war eine Illusion. Im Alltag hat sich Portugiesisch durchgesetzt. Deutsch ist zunehmend eine Fremdsprache. Die Dreizehnlindner sind heute Brasilianer mit österreichischen Wurzeln. Viele sind Doppelstaatsbürger.
„Tirol unter Palmen“ in Brasilien
„Treze Tilias“ liegt im Süden Brasiliens. Vor 90 Jahren haben rund 800 Einwanderer aus Österreich die Siedlung Dreizehnlinden gegründet. In der heute sehr beliebten Tourismusgemeinde werden noch immer alpenländischer Dialekt und österreichische Traditionen hochgehalten.
„Alpen-Disneyland“ mit Ablaufdatum?
Etwa 60 Prozent der fast 9.000 Einwohnerinnen und Einwohner von Dreizehnlinden haben heute noch österreichischen Migrationshintergrund. Im Vergleich zur letzten Volkszählung 2010 ist die Bevölkerung um fast 40 Prozent gewachsen. Die Zuzügler sind heute beinahe ausschließlich Brasilianerinnen und Brasilianer. Auch das hatte sich Thaler wohl anders vorgestellt.
Nicht absehbar ist, wie lange sich noch Menschen für diesen exotischen, teilweise seltsam anmutenden Mikrokosmos begeistern lassen. Deshalb hat die Geschichte vom „Alpen-Disneyland“ Dreizehnlinden möglicherweise ein Ablaufdatum.