Soldaten vor der zerstörten Polizeistation in Sderot
APA/AFP/Jack Guez
Hamas-Angriff auf Israel

Eskalation mit traumatischen Folgen

Der beispiellose Angriff der Terrorgruppe Hamas auf Israel hat den Nahost-Konflikt weltweit ins Zentrum der Aufmerksamkeit katapultiert. Für die Bevölkerung in Israel und im Gazastreifen ist die Eskalation selbst für Nahost-Verhältnisse mit den vielen Toten traumatisch. Die Hamas hat zumindest ein geostrategisches Ziel erreicht. Die Auswirkungen werden vielfältig sein – und von innenpolitischen in Israel und bei den Palästinensern bis hin zum Ukraine-Krieg reichen.

Für Israel wiederholt sich 50 Jahre nach dem unerwarteten Angriff Ägyptens und Syriens das Trauma des Jom-Kippur-Krieges im Oktober 1973. Mit Hunderten Toten und vielen Geiseln in den Händen der Hamas sind es die mit Abstand blutigsten Tage für Israel seit damals. Auch diesmal gingen dem Überfall ein schwerwiegendes Geheimdienstversagen und eine schwere Fehleinschätzung der Lage voraus.

Dazu kommt, dass Israels Überlegenheit gegenüber der Hamas um ein Vielfaches höher ist als damals gegenüber den beiden feindlichen Nachbarstaaten. Die Einschätzung mancher internationaler Medien, das sei Israels 9/11-Moment, wurde in Israels Medien umgehend rezipiert. Die Aufarbeitung dieses Versagens wird Israels Armee, die politischen Entscheidungsträger und die gesamte israelische Öffentlichkeit noch lange beschäftigen – und die Frage, wen die Hauptverantwortung dafür trifft.

Neusortierung der israelischen Innenpolitik?

Kurzfristig ist die Frage, ob angesichts der erwarteten breiteren Militäraktion gegen die Hamas eine Notfallregierung gebildet wird. Die Opposition hat angesichts der Ausnahmesituation angeboten, einer solchen Regierung beizutreten und die tiefe Abneigung gegenüber dem rechtskonservativen Regierungschef Benjamin Netanjahu vorerst beiseitezulegen.

Ob und wenn ja, zu welchen Bedingungen das passiert – ob sich Netanjahu etwa von den derzeitigen rechtsradikalen Koalitionspartnern trennt – ist unklar. Der Justizumbau, der seit Monaten die israelische Gesellschaft tief spaltet – mit nahezu täglichen Massendemos – ist vorerst praktisch auf Eis gelegt. Unklar ist, wie sich die mit dem Thema verbundene tiefe Spaltung auf den Umgang mit der aktuellen Sicherheitskrise auswirken wird.

Frau vor von Raketentreffer beschädigten Gebäude in Tel Aviv
Reuters/Itai Ron
Tote und Zerstörung auf israelischer Seite

Bisher größter Erfolg für Hamas

Für die Hamas ist der Angriff der wohl größte militärische Erfolg bisher. Der Preis, den die Hamas, aber vor allem die Zivilbevölkerung im Gazastreifen wird zahlen müssen, dürfte hoch werden. Israel wird alles daran setzen, die Abschreckung zumindest mittelfristig wiederherzustellen. Der größte „Trumpf“ in den Händen der Hamas sind die israelischen Geiseln und Kriegsgefangenen.

Bangen um Geiseln

Es ist völlig unklar, ob Israel nach fast 20 Jahren erstmals wieder eine weitgehende Bodenoffensive startet. Das hat die Armee wegen des damit verbundenen verlustreichen Häuserkampfes immer abgelehnt. Und unklar ist auch, was nach einer völligen Ausschaltung der Hamas in dem oft als größtem Freiluftgefängnis der Welt bezeichneten Landstreifen passieren würde. David Meidan, ein Ex-Mossad-Mitarbeiter, der jahrelang für die Verhandlungen mit Geiselnehmern verantwortlich war, machte klar, Israel werde mit der Hamas verhandeln und auf deren Unterstützer Druck ausüben müssen.

Abzuwarten bleibt, ob in Israel – nach dem dafür nötigen zeitlichen Abstand – eine offene Debatte über den zum Konsens gewordenen Umgang mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt entsteht, dem von Netanjahu entscheidend der Weg bereitet wurde. Der Status quo als Dauerlösung, sprich: Palästinenserinnen und Palästinenser ohne Souveränität und mit einem Minimum an Rechten mit militärischen und wirtschaftlichen Mitteln so zu kontrollieren, dass das Sicherheitsrisiko für Israel möglichst niedrig ist. Denn die Strategie, den Konflikt auf diesem ungleichen Niveau einzufrieren, hat sich spätestens jetzt als tödliche Illusion herausgestellt.

Menschen vor zerstörtem Gebäude in Gaza-Stadt
APA/AFP/Mahmud Hams
Tote und Zerstörung auf palästinensischer Seite

Katars zentrale Rolle

Die Hamas könnte mit ihrem Angriff, der im Gazastreifen selbst nur noch mehr Not und Elend für die Menschen bringen wird, ein geostrategisches Ziel erreichen: die von den USA mit großem Aufwand betriebene weitgehende Normalisierung der Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und Israel zu verhindern.

Katar spielt in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle. Es ist die Heimat der Auslandsorganisation der Hamas, ein wichtiger Finanzier und ein Verbündeter des Iran – und gleichzeitig bisher auch der wichtigste Vermittler zwischen Hamas und Iran. Das jüngste Austragungsland der Männer-Fußball-WM, Katar, das seit Langem zumindest regionale Machtambitionen hegt, kann vor allem an einem noch mächtigeren Saudi-Arabien, mit dem die Beziehungen nach jahrelanger Eiszeit immer noch unterkühlt sind, nicht interessiert sein. Und es wäre auch nicht im Interesse des Iran, einem weiteren wichtigen Alliierten der Hamas.

Denn eine Annäherung zwischen Saudi-Arabien und Israel würde die Stellung dieser beider Länder im Nahen Osten erheblich steigern – vor allem auf Kosten des Iran, aber auch Katars.

Hamas-Erfolg im internen Wettbewerb

Die Palästinenser wiederum müssen im Fall eines solchen Deals fürchten, dass ihre Agenda damit endgültig in den Bereich „ferner liefen“ verräumt wird und ihr letztes diplomatisches Druckmittel gegenüber Israel – die ausbleibende Normalisierung mit arabischen und islamischen Staaten – seine Wirkung verliert.

Im internen Wettkampf mit der ohnehin geschwächten Fatah von Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas steht die Hamas mit dem Angriff auf Israel zudem nun einmal mehr als umsetzungsstark da: In den letzten Wochen versuchten Vertreter der Autonomiebehörde ziemlich ergebnislos, Riad in Gesprächen dazu zu bringen, klare Forderungen der Palästinenser als Zugeständnisse von Israel einzufordern – mit offenbar geringem Erfolg.

Cupal (ORF) berichtet aus Südisrael

ORF-Korrespondent Tim Cupal berichtet aus Israel, warum sich die israelische Armee trotz militärischer Überlegenheit schwertut, die Hamas auf eigenem Staatsgebiet zu stoppen. Er schildert die aktuelle Lage, berichtet von den Geiseln, die nach Gaza verschleppt wurden, und erläutert den Beitrag der Hisbollah aus dem Libanon.

Biden muss um Coup bangen

Die Hamas könnte dagegen den gesamten Deal mit ihrem Überfall auf Israel jetzt erfolgreich torpedieren. Die USA fürchten jedenfalls bereits um ihre Vermittlungsbemühungen. Der stellvertretende Nationale Sicherheitsberater, Jon Finer, betonte am Sonntag in FoxNews, es sei weiter im Interesse beider Staaten, sich um eine Annäherung zu bemühen.

Für US-Präsident Joe Biden wäre eine Einigung der wichtigste außenpolitische Coup, der wohl selbst den katastrophalen Abzug aus Afghanistan überstrahlen würde und ihm auch im bevorstehenden Wahljahr Stimmen bescheren würde. Die USA könnten zugleich gegenüber China ihre führende Rolle im Nahen Osten nachdrücklich behaupten.

Auswirkungen auch auf Ukraine-Krieg

Der Angriff der Hamas und ihre Folgen könnten sich zudem indirekt auch auf den Ukraine-Krieg auswirken. US-Experten warnen bereits, Moskau werde versuchen, die Angriffe der Hamas auch für seinen Krieg gegen die Ukraine auszunutzen. In einer Informationskampagne werfe der Kreml dem Westen vor, zugunsten der Unterstützung der Ukraine die Konflikte im Nahen Osten vernachlässigt zu haben, schrieb das US-Thinktank Institute for the Study of War (ISW) in Washington.

Die Experten verwiesen etwa darauf, dass das russische Außenministerium den Westen beschuldigt habe, zuletzt die Bemühungen des Nahost-Quartetts, zu dem neben Russland die USA, die EU und die Vereinten Nationen gehören, blockiert zu haben.

Je mehr die Situation eskaliert, desto besser in den Augen der Hamas, die daher auch zu Aufständen im besetzten Westjordanland, in Jerusalem und durch arabische Israelis aufrief. Am gefährlichsten wäre eine ebenfalls nicht ausgeschlossene Eskalation auch an Israels Nordgrenze – wenn also die vom Iran gestützte Terrorgruppe Hisbollah von dort aus Israel angreifen würde. Das würde die Risiken für die gesamte Region nochmals deutlich verschärfen.