israelische Soldaten n der Nähe von Sderot
APA/AFP/Ronaldo Schemidt
Hamas-Überfall

Komplettversagen der Geheimdienste

Tausende Raketen, das Eindringen in der Luft, zu Wasser und am Boden, Geiselnahmen: Der konzertierte Überfall der Hamas auf Israel muss schon lange vorbereitet gewesen sein. Wie diese Angriffe an den hochgerüsteten israelischen Geheimdiensten vorbei passieren konnten, stellt das Land und seine Regierung unter Premier Benjamin Netanjahu nun vor ernste Fragen – denn Warnzeichen waren vorhanden.

Der Gazastreifen als Hochsicherheitszone: Im Lauf der Jahre baute Israel eine vermeintlich lückenlose Überwachung auf, die Grenze ist streng gesichert, Kameras und Soldaten sind überall. Abhörgeräte, Sensoren und Netzwerke menschlicher Informanten sollten für die Sicherheit sorgen, dafür, dass Hamas-Zellen und ihr Waffenschmuggel enttarnt werden.

Das Land investierte enorme Ressourcen in seine Cyberfähigkeiten. Die israelischen Geheimdienste – vom Mossad über den militärischen Dienst Aman bis Schin Bet, der für innere Sicherheit und Spionageabwehr zuständig ist – erlangten ohnehin seit Staatsgründung fast den Ruf der Unbesiegbarkeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Nazis auf dem gesamten Globus gejagt, im Westjordanland wurden zahlreiche Anschläge vereitelt, es gab sogar den Verdacht, dass Israel iranische Nuklearwissenschaftler mitten im Iran töten ließ. Dieser Ruf ist nun dahin.

„Das ist ein großes Versagen“, sagte Jaakov Amidror, ein ehemaliger nationaler Sicherheitsberater Netanjahus. „Diese Operation beweist tatsächlich, dass die Geheimdienstfähigkeiten in Gaza nicht gut waren.“ Israels Sicherheitstaktik sei „total zusammengebrochen“, so Ex-Mossad-Chef Danny Jatom zur BBC. „Alles ging schief, und niemand hatte eine Ahnung.“

Vermeiden von elektronischer Kommunikation

Nach den Angriffen sind sich nun viele Fachleute sicher, dass es Warnsignale gegeben hat. Ein ägyptischer Geheimdienstmitarbeiter sagte gegenüber der Nachrichtenagentur AP gar, man habe wiederholt mit den Israelis über „etwas Großes“ gesprochen: „Wir haben sie gewarnt, dass die Situation sehr bald explodieren wird, und zwar in großem Ausmaß. Aber sie haben solche Warnungen unterschätzt.“

Der pensionierte israelische General Amir Avivi vermutete eine Ursache für die Ahnungslosigkeit der Geheimdienste ausgerechnet in ihren technologischen Fähigkeiten. Man habe sich zu sehr darauf verlassen, die Hamas habe das ausgenutzt.

Die Militanten in Gaza hätten Wege gefunden, sich der technologischen Informationsbeschaffung zu entziehen, indem sie auf den Gebrauch von elektronischer Kommunikation verzichteten. „Sie sind in die Steinzeit zurückgekehrt“, so Avivi. Es seien aber augenscheinlich Hunderte Menschen in die Planungen involviert gewesen. Das zeige, dass die Hamas die weitreichenden Informantennetzwerke, die Israel aufgebaut hat, brechen konnte.

Vermeintliche Kriegsmüdigkeit

Einig sind sich viele Fachleute auch darin, dass Israel auf eine sorgfältig geplante Täuschung der Hamas hereingefallen ist. Die Terrororganisation habe in der jüngsten Zeit klar zu verstehen gegeben, derzeit nicht auf eine Konfrontation aus zu sein. Israel habe den Menschen im Gazastreifen manche Erleichterung zugedacht, so wurden etwa 15.000 Arbeitsgenehmigungen in Israel für die Landwirtschaft, den Bau oder Dienstleistungen erteilt. Damit konnten die Menschen rund zehnmal mehr verdienen als im Gazastreifen.

Grafik zeigt Orte an denen es am Samstag Angriffe der Hamas-Terroristen gab
Grafik: APA/ORF; Quelle: NY Times

„Ich glaube, es herrschte die Ansicht, dass die Hamas das nicht vermasseln würde“, so der frühere US-Botschafter in Israel, Thomas Nides, zur „New York Times“. „Das war eindeutig falsch.“ Auch Avi Melamed, ehemaliger Geheimdienstmitarbeiter in Israel, äußerte diese Meinung: Der Druck in Gaza sei verringert worden, man habe geglaubt, eine kriegsmüde Hamas konzentriere sich vermehrt auf den wirtschaftlichen Aufstieg der Menschen in Gaza. „Offenbar hat die Hamas andere Berechnungen angestellt“, so Melamed zur „Financial Times“.

Israel habe die Hamas falsch gelesen. „Sie ließen uns glauben, sie wollten Geld“, sagte die Quelle. „Und die ganze Zeit waren sie mit Übungen und Drills beschäftigt, bis sie außer Kontrolle gerieten“, so eine Quelle aus dem israelischen Geheimdienst.

In den vergangenen zwei Jahren hatte die Hamas auch auf Angriffe auf Israel verzichtet. Selbst als die Terrororganisation Islamischer Dschihad im Gazastreifen mit Raketen israelische Ziele attackierte, hielt die Hamas sich zurück. Nun sieht es so aus, als sei auch das Teil der Täuschung gewesen. Währenddessen konzentrierten sich die israelischen Sicherheitskreise eher auf das Westjordanland statt auf Gaza, wo es wiederholt zu Scharmützeln kam.

„Israel hat das sicherlich gesehen“

Dabei dürfte sich doch zumindest manches direkt vor den Augen der Israelis abgespielt haben. Die Nachrichtenagentur Reuters veröffentlichte einen detaillierten Bericht über die Abläufe des Angriffs unter Beihilfe von Quellen aus Israel und einem Insider der Hamas. Demnach bereitete sich die Hamas seit Monaten vor, teils gar nicht so verdeckt, wie man annehmen würde.

Laut der Hamas-Quelle wurde in Gaza sogar eine israelische Scheinsiedlung aufgebaut, in der eine militärische Landung geübt wurde. Auch Videos seien von diesen Trainings angefertigt worden. „Israel hat das sicherlich gesehen, aber sie waren überzeugt, dass die Hamas nicht daran interessiert war, sich auf eine Konfrontation einzulassen“, wurde der Insider zitiert.

Viele Hamas-Führer seien aber auch gar nicht in die genauen Pläne eingeweiht gewesen und die eingesetzten Kämpfer hätten während des Trainings keine Ahnung vom Zweck der Übungen gehabt, sagte er. Damit habe man Leaks vermeiden wollen.

Israel: Falsche Einschätzung der Geheimdienste

Trotz strenger Sicherheitsmaßnahmen konnte die Hamas ihren Großangriff auf Israel starten. Die Geheimdienste hatten die Lage völlig falsch eingeschätzt.

Grünes Licht aus Teheran

Hinzu kommt freilich die Rolle des Iran, des Erzfeindes Israels. Für Teheran ist das Bündnis mit der Hamas ein entscheidender politischer Hebel. Der Iran will den sich abzeichnenden Frieden zwischen Saudi-Arabien und Israel zum Scheitern bringen, bevor er beginnt, so Fachleute.

„Man muss sich fragen, wer davon profitiert“, sagte der pensionierte US-General Kenneth F. McKenzie, ehemaliger Befehlshaber des United States Central Command, zur „New York Times“. „Nun, der Iran tut es, weil er einen Keil zwischen Israel und die Saudis treibt.“

Wie das „Wall Street Journal“ am Montag berichtete, hat der Iran entscheidend eingegriffen in die Operation. Aus Teheran sei am vergangenen Montag sogar das grüne Licht für den Angriff gekommen.

Der tödlichste Zeitpunkt

Der Zeitpunkt für den tatsächlichen Angriff am Samstag schien der ehestmögliche und auch der wirkungsvollste. Zum einen war Schabbat, zum anderen war ein gesetzlicher Feiertag. Seit Monaten war die Öffentlichkeit gelähmt durch den Streit über die israelische Justizreform, die Netanjahu durchbringen will. Tausende Reservisten der Armee hatten sich den Protesten gegen die Reform angeschlossen und angedroht, nicht mehr zum Dienst zu erscheinen. Die innenpolitische Spaltung dürfte die Hamas zusätzlich ermutigt und zur Überrumpelung der Israelis beigetragen haben, so die Fachleute.

„Diese ganze Kampagne und Gehorsamsverweigerung war ein deutliches Signal an unsere Feinde, dass Israel schwach ist“, so General Avivi. Das Versagen sei „nicht kleiner“ als vor 50 Jahren vor dem Jom-Kippur-Krieg. „Ich bin überrascht über das Versagen nicht nur der gesamten Aufklärung, sondern auch der taktischen Kräfte. Selbst wenn sie überrascht wären, würde man erwarten, dass die Gaza-Division bei der Verteidigung der Grenze viel bessere Arbeit leisten würde“, so Avivi.

Dennis Ross, ein ehemaliger Nahost-Unterhändler, der jetzt am Washington Institute for Near East Policy arbeitet, meinte, die Hamas habe ihre Erwartungen wahrscheinlich übertroffen. „Jetzt müssen sie sich aber mit einem Israel auseinandersetzen, das entschlossen ist, sie zu vernichten.“