Pressekonferenz von Verwandten der Verschleppten
AP/Maya Alleruzzo
Verschleppte Israelis

Verzweifelte Appelle von Angehörigen

Für unzählige israelische Familien ist am Samstag der blanke Horror über ihr Leben hereingebrochen. Hamas-Angreifer ermordeten am Samstag bei ihrem Vorstoß auf israelisches Gebiet nach neuesten Angaben 900 Menschen – in ihren Häusern, in Kibuzzen, bei einem Musikfestival. Mindestens 150 Menschen wurden verschleppt, darunter viele Frauen und Kinder. Ihre Angehörigen bitten verzweifelt um Hilfe.

Angesichts der sich überschlagenden Ereignisse haben die Behörden noch keinen Überblick über die Identität aller Opfer und Verschleppten. Bei Letzteren hält man sich auch mit öffentlichen Äußerungen zurück. Vermutet wird, dass sie in der Hand der Hamas und einer zweiten Gruppe, des Islamischen Dschihad, als Geiseln für Gefangenenaustausche herhalten sollen – auch, wenn die Hamas das noch bestreitet. „Der Militäreinsatz dauert an, deshalb gibt es derzeit keine Chance für Verhandlungen über das Thema Gefangene oder irgendetwas anderes“, sagte der in Doha stationierte Hamas-Vertreter Hossam Badran heute gegenüber AFP.

Am Montagabend drohte die Hamas sogar damit, Geiseln zu töten, wenn die israelische Armee ihre Luftangriffe auf den Gazastreifen fortsetze. Auch Israel dementierte Verhandlungen über die Freilassung der Geiseln, berichtete die „Times of Israel“ unter Berufung auf einen israelischen Beamten. 2011 hatte Israel sich zuletzt mit der Hamas auf einen Gefangenentausch eingelassen.

Angehörige auf Videos entdeckt

Viele Angehörige wissen nichts über das Schicksal ihrer Familienmitglieder. Manche sind sich sicher, ihre Söhne, Töchter oder Geschwister auf den brutalen Aufnahmen von Entführungen durch Hamas-Angreifer erkannt zu haben, die seit Samstag in den sozialen Netzwerken kursieren.

Polizei und Armee richteten ein „Einsatzzentrum für vermisste Menschen“ in der Nähe des internationalen Ben Gurion Flughafens in Lod in Zentralisrael ein. Dutzende verzweifelte Angehörige sind dort seit Samstagabend, in der Hoffnung, Informationen zu bekommen. Persönliche Gegenstände der Verschwundenen wie Zahnbürsten und Kämme konnten vorbeigebracht werden, um eine Identifizierung über DNA-Analysen im Falle des Todes zu ermöglichen.

Einsatzzentrum für vermisste Menschen in Lod, Israel
IMAGO/UPI/Debbie Hill
Angehörige suchten im Einsatzzentrum für vermisste Menschen in Lod großteils vergeblich nach Antworten

Viele hoffen dort auf Hilfe, so wie Mor Strikovski, deren 63-jährige Mutter aus dem Kibbuz Beeri in der Nähe des Gazastreifens verschwunden ist. Wie andere Israelis auch, ist sich Strikovski sicher, ihre Mutter auf einem im Internet entdeckten Video erkannt zu haben. „Hamas-Leute haben sie mit ihrem Mann und zwei Nachbarn in ihrem Haus gekidnappt und aus dem Kibbuz gebracht. Wir denken, sie sind in Gaza“, sagt sie. Im Kibbuz Beeri sollen laut israelischen Rettungskräften mehr als 100 Tote gefunden worden sein.

Spontane Pressekonferenz

Einige Angehörige von Verschwundenen versammelten sich am Sonntagabend zu einer spontan einberufenen Pressekonferenz: Joni Ascher erzählte von einem Video, auf dem zu sehen ist, wie Bewaffnete seine Frau und seine beiden kleinen Töchter entführten: „Sie sind noch nicht einmal fünf und drei Jahre alt“, sagte er. Ein anderer Vater, Uri David, erzählte, dass er 30 Minuten lang mit seinen beiden Töchtern Tair und Odaja telefoniert habe, bevor Schüsse zu hören waren und die Leitung plötzlich unterbrochen war.

Pressekonferenz von Angehörigen der Verschleppten
AP/Maya Alleruzzo
Trauer und Verzweiflung bei Angehörigen von Entführten

Suche per soziale Netzwerke

Andere Israelis nahmen die Suche nach ihren verschleppten Angehörigen auf andere Weise selbst in die Hand und starteten verzweifelte Aufrufe in den Onlinenetzwerken. Die 37-jährige Jifat Zailer hat Fotos ihrer Cousine bei Facebook veröffentlicht. Schiri Bivas lebte im Kibbuz Nir Os rund zwei Kilometer vom Gazastreifen entfernt und wurde vermutlich mit ihren zwei Kindern im Alter von neun Monaten und drei Jahren verschleppt. Auch hier ist ein Video mit der Mutter und ihren zwei Kindern in dem Palästinenser-Gebiet der einzige Hinweis auf ihren Aufenthaltsort. Der Mann von Bivas und dessen Eltern sind verschollen.

ORF-Korrespondent Cupal zu den verschleppten Geiseln

ORF-Korrespondent Tim Cupal berichtet über die verschleppten Geiseln aus Israel nach Gaza und wie es mit ihnen weitergehen soll.

Massenmord bei Festival

Auch die Mutter der Deutschen Shani Louk, die seit dem Rave-Festival in der Negev-Wüste im Süden des Landes vermisst wird, wandte sich an die Öffentlichkeit: Auf einem Video ist die 22-Jährige halb nackt auf einem Pick-up zwischen mehreren Hamas-Männern offenbar im Gazastreifen zu sehen. Ob sie auf den Bildern noch lebt, ist nicht zu erkennen. Ihre Mutter Ricarda Louk hat die Hoffnung dennoch nicht aufgegeben.

Nahost-Konflikt: Massaker bei Musikfestival

Bei den eskalierenden Konflikten im Nahen Osten sind bisher mindestens 800 Israelis ums Leben gekommen, Tausende wurden verletzt. Die Terroristen gehen dabei besonders brutal vor: Zu Beginn des Überfalls stürmten Kämpfer ein Musikfestival nahe der Grenze zu Gaza. Allein dort sollen 260 Menschen ums Leben gekommen sein.

Der Angriff auf das Musikfestival gilt als beispielloser Massenmord der terroristischen Hamas. Angreifer schossen nach Augenzeugenberichten wahllos in die Menge, töteten Menschen, die zu Fuß oder mit dem Auto flüchten wollten. Mindestens 260 Menschen wurden ermordet. Die Männer hätten aus nächster Nähe auf die Partygäste geschossen, erzählte ein Überlebender. Um ihn herum seien alle Menschen tödlich getroffen worden.

Auch die 19-jährige Ester Borochov überlebte den Horror. Das Auto, mit dem sie flüchten wollte, überschlug sich nach einem Beschuss durch die Angreifer. „Wir haben uns in dem Auto tot gestellt, meine Freundin und ich, zweieinhalb Stunden lang, bis Hilfe gekommen ist (…). So haben wir das überlebt.“

„Bitte bleibt menschlich“

„Ich weiß nicht, ob meine Tochter irgendwo blutend liegt, ich weiß nicht, ob man sie nach Gaza verschleppt hat, ich weiß nicht, ob sie leidet“, sagte Ahuwa Maisel am Montag der dpa. Ihre Tochter habe sich während des Angriffs noch telefonisch gemeldet. „Hier ist ein Massaker, sie richten ein Massaker an, Hunderte Terroristen schießen um sich“ habe sie gesagt, bevor die Verbindung endete.

„Falls sie jemand gefangen hält, bitte, bitte, bleibt menschlich. Wir haben alle die gleiche DNA, wir sind alle nur Menschen“, appellierte Maisel an die Entführer. Die Ungewissheit sei nicht auszuhalten. Unschuldige Menschen dürften nicht zu politischen Zwecken missbraucht werden. „Lasst das keinen neuen Holocaust werden.“

Friedensappelle auch von Angehörigen

Ähnlich äußerte sich Jakov Argemani, dessen Tochter auf dem Festival verschleppt wurde, in einem TV-Interview. Seine Tochter Noa ist auf einem Video zu sehen. Auf einem Motorrad wird sie von mehreren Männern weggebracht. Auch ihr Freund ist auf dem Video zu sehen, von ihm fehlt ebenfalls seither jedes Lebenszeichen.

Argemani appellierte an die israelische Regierung, alles zu tun, um sie und die anderen Geiseln freizubekommen. Er zeigte trotz seiner schweren Situation Mitgefühl auch für das Los der Palästinenser: „Auch sie haben Opfer, auch sie haben Gefangene, und auch sie haben Mütter, die weinen.“ Er flehte darum, man möge doch endlich Frieden schließen. „Wir sind zwei Völker vom gleichen Vater, bitte schließen wir doch Frieden, echten Frieden.“