Menschen bei einer Trauerfeier auf dem Festivalgelände
Reuters/Violeta Santos Moura
Nach Hamas-Gräueln

Israel vereint in Solidarität

Nach den Vergewaltigungen, der gezielten Ermordung und Hinrichtung israelischer Zivilistinnen und Zivilisten in ihren Häusern und bei einem Musikfestival sowie den Geiselnahmen durch die Hamas ist eine Welle der Hilfsbereitschaft im Land ausgebrochen. Viele helfen den Betroffenen auf eigene Faust, Hilfsorganisationen springen ein, wo der Staat sichtlich überfordert ist. Die Hilfe ist auch der Versuch, mit diesem Trauma im andauernden Krieg umzugehen und handlungsfähig zu bleiben.

Noch am Schabbat, als der Angriff der Hamas auf die israelischen Orte entlang des Gazastreifens noch voll im Gang war und die Regierung in Schockstarre erschien, haben viele Israelis begonnen, Hilfe für die betroffenen Orte und Städte zu organisieren. Viele setzten sich einfach ins Auto und fuhren los. Viele von ihnen, um gegen die Hamas zu kämpfen, da die Armee anfangs sichtlich orientierungslos war und nach der Entsendung von Truppen aus anderen Landesteilen wegen des systematischen Vorgehens an den vielen Tatorten nur langsam vorankam.

Vermehrt seit Sonntag und Montag, als schließlich die Armee die volle Kontrolle über alle Orte zurückgewonnen hatte, helfen Tausende Menschen – teils auf eigene Faust, teils als Freiwillige über Hilfsorganisationen. Mittlerweile sind auch mehrere große Sammel- und Verteilzentren – die meisten unterirdisch aus Sorge vor Raketenangriffen – aktiviert. Viele Orte wurden evakuiert, aber in vielen anderen wie der Stadt Sderot blieben viele Bewohnerinnen und Bewohner zurück.

Menschen spenden Blut für Verletzte in Jerusalem
Reuters/Ronen Zvulun
Im ganzen Land sind Blutspendezentralen wie hier in Jerusalem voll

Kaufleute beliefern Kunden im Viertel

Oft sind besonders Alte, Menschen mit Behinderungen und Kranke betroffen. Um sie begannen sich umgehend die Nachbarn zu kümmern und die Betreiberinnen und Betreiber von kleinen Supermärkten, die ihre Klientel meist seit Jahren persönlich kennen. Eine von ihnen, eine israelische Araberin in Sderot, wurde am Donnerstag vom TV-Sender Kan interviewt. In der 28.000-Einwohner-Stadt gibt es immer noch täglich mehrmals Raketenalarm, und viele halten sich derzeit dauerhaft in den Schutzräumen auf.

Sie stelle vielen Älteren nun Essen und andere Artikel des täglichen Bedarfs in ihre Häuser und Wohnungen zu, schilderte sie. Und sie schloss das Interview mit einem Aufruf an die Hamas ab, die Geiseln freizulassen, und warf der islamistischen Terrororganisation vor, mit der Gewalt gegen Zivilisten gegen den Islam zu verstoßen.

Hilfsorganisationen sammeln und verteilen das Nötigste

Auch zahlreiche Gruppen sind seit Tagen im Einsatz, so etwa Achim LaNeschek (dt.: „Waffenbrüder“). Es handelt sich um eine Gruppe von Milizsoldaten, die aus Protest gegen die aktuelle Rechtsregierung gegründet wurde und führend bei den seit Monaten andauernden (und nun ausgesetzten) Protesten gegen den geplanten Justizumbau auftritt. Noch am Sonntag wandelte sich die Bewegung zu einer Hilfsorganisation. Mit ihren eigenen Pkws brachten und bringen Freiwillige Menschen aus den angegriffenen Orte in andere Landesteile.

Viele finden Unterkunft bei anderen Familien – oft, ohne dass sie einander vorher kannten. Gleichzeitig liefern Achim LaNeschek und viele andere Gruppen Kleidung, Essen, Medikamente und Spielzeug in die Grenzorte und auch in Hotels in anderen Landesteilen, in denen Geflüchtete vorerst untergekommen sind. Nicht wenige von ihnen flüchteten im Pyjama und hatten keine Zeit, auch nur einen kleinen Koffer zu packen.

Menschen helfen Verletzten in Ashdod nach einem Raketeneinschlag
Reuters/Violeta Santos Moura
Menschen helfen Älteren nach einem Raketenangriff auf Aschdod

Solidarität aus der ganzen Welt

Auch aus dem Ausland gibt es viel Solidarität. In vielen jüdischen Gemeinden weltweit werden derzeit Hilfspakete geschnürt und nach Israel geschickt. Auch die Jugendbewegungen der Wiener Kultusgemeinde schickten bereits eine Hilfslieferung. Viele fliegen auch nach Israel, um dort helfen zu können – ob im Militär oder im zivilen Bereich.

Hilfsappelle via TV und Radio

In israelischen Medien werden ständig die Nummern von Hotlines durchgegeben sowie Menschen, die Hilfe brauchen, mit Hilfsorganisationen – oftmals live auf Sendung – miteinander kurzgeschaltet. Angehörige von Vermissten werden interviewt und fragen die Bevölkerung, ob jemand etwas über den Verbleib der Vermissten weiß.

Orin Ganz, deren 18-jährige Tochter Eden vermisst wird, schilderte am Donnerstag etwa, sie wisse nur, dass sie verletzt sei und medizinische Betreuung brauche. Sie wisse aber nicht, ob sie sich irgendwo in Israel aufhalte oder in den Gazastreifen entführt wurde. Wenn ja, vertraue sie trotz aller Gräueltaten der Hamas darauf, dass sie gut versorgt werde.

Psychologische Hilfe

Zudem gibt es via TV und Radio Tipps von Psychologinnen und Psychologen, wie man am besten mit dem Schock, der Flut an Berichten und vor allem den Bildern über die Gräueltaten der Hamas umgeht.

Vor allem in den ersten drei Tagen, als Hamas-Kämpfer teils noch immer in den Orten wüteten und sich die Menschen verschanzen mussten, war das Telefon und ein Anruf bei TV-Stationen für viele die einzige Möglichkeit, um Hilfe zu bitten. Die Rettungsdienste und das Militär waren diesbezüglich überfordert und waren oft dauernd besetzt bzw. erfolgte ein Rückruf nicht oder zu lange nicht.

Telefonische Anleitung für verschanzte Kinder

Immer wieder betonen Psychologinnen via Medien, wie wichtig es jetzt sei – auch für nicht direkt Betroffene –, über die traumatischen Ereignisse zu sprechen. Zugleich wird geraten, möglichst wenige der oft von der Hamas selbst verbreiteten Videos, die die Verbrechen zeigen, anzuschauen. Besondere Tipps gibt es für Kinder und deren Eltern, wie sie diese in dem Moment, in dem das ganze Land tagelang das Gefühl
hatte, jede Sicherheit verloren zu haben, unterstützen können.

Viele Psychologinnen volontieren derzeit bei Telefonhelplines, etwa einer des Bildungsministeriums. Eine schilderte, wie sie stundenlang mit einem achtjährigen Buben, der mit seinem jüngeren Bruder allein in einem dunklen Sicherheitsraum war, während sich im Haus Terroristen befanden, den Kontakt hielt und gleichzeitig die Einsatzkräfte alarmierte und diese zur richtigen Adresse hin lotste.

Große emotionale Verbundenheit

Viele Israelis empfinden mit dem Überfall in die eigenen Orte und Häuser einen nie da gewesenen Verlust eines – trotz aller Gefahren durch den Dauerkonflikt mit den Palästinensern – grundsätzlichen Sicherheitsgefühls. Einige schilderten gegenüber Medien, sie fühlten sich wie ihre Groß- und Urgroßeltern, als sie von den Nazis verfolgt und ermordet wurden.

Und Verletzte, Angehörige von Vermissten und im Einsatz befindlichen Soldaten betonen in Interviews immer wieder, dass die nationale Anteilnahme ihnen hilft. Das offene Reden über die traumatischen Erfahrungen, über das eigene Leid und die Ungewissheit angesichts vermisster Angehöriger löst nicht nur eine Welle der Solidarität aus, sondern lässt auch all die tiefen Gräben in der israelischen Gesellschaft – zumindest vorübergehend – vergessen.